Industrielleneingabe

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Die Industrielleneingabe war ein von bis zu zwanzig Vertretern der Industrie, der Finanzwirtschaft und der Landwirtschaft unterzeichneter Brief, der am 19. November 1932 an den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg gerichtet wurde mit der Aufforderung, Adolf Hitler zum Reichskanzler zu ernennen.

Vorher hatte es bereits zwei ähnliche Versuche gegeben, durch Unterschriftenlisten zur Machtübergabe an die Nationalsozialisten beizutragen, nämlich eine Eingabe der ÆWirtschaftspolitischen Vereinigung Frankfurt“ vom 27. Juli 1931 und eine Erklärung von 51 Professoren vom Juli 1932 im Völkischen Beobachter.[1]

Die Idee zur Industrielleneingabe war Ende Oktober 1932 im Keppler-Kreis entstanden und wurde von Heinrich Himmler unterstützt, der hier als Verbindungsmann zum Braunen Haus fungierte. Bei der Abfassung war vor allem Hjalmar Schacht behilflich, der als einziges Mitglied des Keppler-Kreises über nennenswerte politische Erfahrung verfügte. Die Industrielleneingabe wurde erstmals 1956 in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft veröffentlicht[2] und galt lange als Beweis dafür, dass die Großindustrie eine zentrale Rolle beim Aufstieg der NSDAP zur Macht gespielt habe (vgl. Großindustrie und Aufstieg der NSDAP).

Inhaltsverzeichnis

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Inhalt [Bearbeiten]

Zum vollen Wortlaut siehe den Abschnitt Weblinks.

Gleich zu Beginn stellt der Text der Eingabe auf die gleiche Gesinnung der Unterzeichner und des Reichspräsidenten ab (ÆGleich Eurer Exzellenz durchdrungen von heißer Liebe zum deutschen Volk und Vaterland […]“). Hindenburgs jüngere Politik, unabhängig vom Reichstag mit Notverordnungen zu regieren, wird ebenso begrüßt wie eine als notwendig vorgestellte, Ævom parlamentarischen Parteiwesen unabhängigen Regierung“, wie sie im, von Papen formulierten, ÆGedanken eines Präsidialkabinetts zum Ausdruck“ komme. Dieses Ziel (das später im Text auch als von der DNVP und der NSDAP grundsätzlich geteilt vorgestellt wird) besitze nach der Reichstagswahl vom 6. November 1932, im Gegensatz zum derzeitigen Kabinett, Æeine volle Mehrheit im deutschen Volk […], wenn man – wie es geschehen muss – von der staatsverneinenden Kommunistischen Partei“ absehe.

Das Ziel wird als Alternative zum Æbisherige[n] parlamentarische[n] Parteiregime“ vorgestellt. Die zeitgenössischen politischen Verhältnisse der Weimarer Republik werden charakterisiert durch Ædes öfteren wiederholte Reichstagsauflösung mit sich häufenden, den Parteikampf immer mehr zuspitzenden Neuwahlen“, die Ænicht nur einer politischen, sondern auch jeder wirtschaftlichen Beruhigung und Festigung entgegenwirken“ müssten. Da aber Æjede Verfassungsänderung, die nicht von breitester Volksströmung getragen“ werde, Ænoch schlimmere wirtschaftliche, politische und seelische Wirkungen auslösen“ würde, wird an Papen die Bitte herangetragen, dass Ædie Umgestaltung des Reichskabinetts in einer Weise erfolgen möge, die die größtmögliche Volkskraft hinter das Kabinett“ bringe.

Anschließend bekennen sich die Unterzeichner Æfrei von jeder engen parteipolitischen Einstellung“. Die nationale Bewegung, Ædie durch unser Volk geht“, wird als Æverheißungsvolle[r] Beginn einer Zeit“ vorgestellt, Ædie durch Überwindung des Klassengegensatzes“ (vgl. Klassengesellschaft) Ædie unerlässliche Grundlage für einen Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft erst“ schaffe. Zur Erbringung der für diesen Aufstieg notwendigen Opfer solle Ædie größte Gruppe dieser nationalen Bewegung führend an der Regierung beteiligt“ werden.

Abschließend sagen die Unterzeichner voraus, dass die ÆÜbertragung der verantwortlichen Leitung eines […] Präsidialkabinetts an den Führer der größten nationalen Gruppe […] die Schwächen und Fehler, die jeder Massenbewegung notgedrungen anhaften, ausmerzen und Millionen Menschen, die heute abseits stehen, zu bejahender Kraft mitreißen“ werde.

Die Unterzeichner der Eingabe [Bearbeiten]

Unterzeichner waren:

Auf dem in den Akten des Büros des Reichspräsidenten befindlichen Exemplar des Briefs fehlen die Unterschriften von Thyssen, Beckmann, Keyserlingk-Cammerau und Rohr-Manze, sie wurden nachgereicht. Der Bankier Friedrich Reinhart versuchte, die Unterschriftenliste nachträglich aufzubessern, indem er in einem Brief an Hindenburgs Staatssekretär Otto Meißner vom 21. November 1932 behauptete, auch Albert Vögler, Paul Reusch und Fritz Springorum würden Ævoll und ganz auf dem Boden der Eingabe stehen, aber nicht zu unterzeichnen wünschen, da sie politisch nicht hervortreten wollen“[3]; diese Behauptung Reinharts wird in der neueren Forschung bezweifelt – die genannten Schwerindustriellen trugen ihre Unterschrift nicht nach.

Als Hindenburg Adolf Hitler dann am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannte, soll er nach den Erinnerungen von Emil Helfferich die Industrielleneingabe als wichtiges Dokument für diesen Vorgang verlangt haben.[4] Diese Information fehlt in den Memoiren Meißners und aller anderen näheren Bekannten Hindenburgs, weshalb ihr Wahrheitsgehalt ebenfalls angezweifelt wird.

Historischer Kontext [Bearbeiten]

Die Eingabe bezog sich ausdrücklich auf das Ergebnis der Reichstagswahl vom 6. November 1932. Bei dieser Wahl hatten die Nazis eine Niederlage erlitten und deutlich weniger Stimmen bekommen als bei der Wahl am 31. Juli 1932; ihr Anteil war von 37 auf 33 Prozent gefallen. Die KPD dagegen hatte deutlich Stimmen hinzugewonnen. Viele rechte Wähler waren von den Nationalsozialisten wieder zur DNVP zurückgekehrt. Die Petenten setzten sich also in einer historischen Situation für Hitler ein, als aus ihrer Sicht die Gefahr bestand, dass die nationalsozialistische Bewegung wieder untergehen könnte.

Zur Beurteilung der Eingabe ist es unabdingbar, sie in den Rahmen anderer Bemühungen industrieller Kreise einzuordnen, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen. Bereits auf die Brüning-Regierung wurde Druck ausgeübt Hitler an der Regierung zu beteiligen.

Der Attaché der amerikanischen Botschaft in Berlin, George Gordon, schrieb am 23. September 1930 an den amerikanischen Außenminister Henry Stimson:

ÆTatsächlich gewinnt man in den letzten Tagen den Eindruck, dass wichtige finanzielle Kreise – wenn auch nicht in dem wie oben gekennzeichneten Umfang – auf den Kanzler und andere Mitglieder der Regierung einen Druck ausgeübt haben und ausüben, um das Experiment zu unternehmen, die Nazis an der Regierung zu beteiligen […] Gerade heute erreicht mich ein Gerücht aus gewöhnlich sehr gut informierter Quelle, dass verschiedene amerikanische Finanzkreise, die hier vertreten sind, in gleicher Richtung sehr aktiv sind.“[5]

Am 27. Juli 1931 erhielt Hindenburg eine Eingabe der Wirtschaftspolitischen Vereinigung Frankfurt am Main mit der Forderung, die Regierung an die NSDAP zu übertragen, da sie Æden Beweis ihrer Bedeutung im täglichen Kampf gegen den Bolschewismus geliefert“ habe.[6] Rudolf Heß, berichtet ebenfalls von der Einflußnahme führender Wirtschaftskreise auf die Regierung, er schrieb am 9. September 1931 an seinen Vater:

ÆDie führenden Leute der Wirtschaft, sogar Großbankiers sind aufgrund der letzten Besprechungen mit H[itler] der Überzeugung, dass nur noch er die Lage meistern könnte – ja selbst von einem jüdischen Bankier habe ich auf einem Umweg diese Meinung gehört. Es wird durch diese Leute nun versucht, Brüning zu bestimmen, H[itler] zumindest mit an die Regierung zu lassen.“[7]

Am 20. September 1932 schrieb der Verbindungsmann des Ruhrbergbaus zur NSDAP August Heinrichsbauer an Gregor Strasser:

Ædass sehr maßgebliche Herren des Reviers sich bei ausschlaggebenden Berliner Stellen sehr stark dafür eingesetzt haben, dass man Herrn Hitler das Reichskanzleramt übertrage“[8]

Im Herbst 1932 setzte sich der Hamburger Nationalklub und der Nationalklub in Berlin für eine Hitlerregierung ein[9]. Der ehemalige Reichskanzler Heinrich Brüning berichtete in einem offenen Brief in der Zeitschrift Deutsche Rundschau vom Juli 1947, dass 1932 eine ÆAnzahl von Bankiers“ einen Æbesonderen, indirekten Druck“ auf Hindenburg ausübten, die Nazis an der Regierung zu beteiligen.[10]

Einschätzung [Bearbeiten]

In der neueren Forschung wird die Eingabe seit der Studie von Henry Ashby Turner (1985) als Misserfolg beurteilt. Als Beleg wird u. a. ein Brief Schachts an Hitler angeführt, in dem er dessen Hoffnungen auf starke industrielle Unterstützung für seine Ernennung zum Reichskanzler bereits am 12. November 1932 dämpfte:

ÆEs scheint, als ob unser Versuch, eine Reihe von Unterschriften aus der Wirtschaft dafür zu bekommen, doch nicht ganz umsonst ist, wenn ich auch glaube, daß die Schwerindustrie kaum mitmachen wird, aber sie trägt ihren Namen 'Schwerindustrie' mit Recht von ihrer Schwerfälligkeit.“[11]

Tatsächlich war erwartet worden, noch viel mehr Unternehmer zu gewinnen: unter anderem Wilhelm Cuno, Karl Haniel, Robert Bosch und Carl Friedrich von Siemens, die indes sämtlich abgelehnt hatten. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die überwältigende Mehrheit der Großindustriellen die Eingabe nicht unterschrieben hat.

Dies zeigt auch ein Vergleich mit dem Aufruf eines DNVP-nahen ÆDeutschen Ausschusses“ vom 6. November 1932, der sich unter der Überschrift ÆMit Hindenburg für Volk und Reich!“ für die Regierung Papen, für die DNVP und damit klar gegen die NSDAP aussprach. Diesen Aufruf hatten insgesamt 339 Persönlichkeiten unterschrieben, darunter mehrere Dutzend Großindustrielle, also deutlich mehr als im Fall der Industrielleneingabe. Hier las man so prominente Namen wie Ernst von Borsig, der Vorsitzende des Bergbauvereins Ernst Brandi, Erich von Gilsa (ein enger Mitarbeiter Reuschs), Fritz Springorum und Albert Vögler. Die Unterschriften der beiden letztgenannten lassen es unwahrscheinlich erscheinen, dass sie, wie Reinhart später glauben machen wollte, tatsächlich mit der Industrielleneingabe und ihrer diametral anderen Stoßrichtung solidarisch gewesen wären.

Ein Misserfolg war allem Anschein nach auch die Terminierung der Eingabe: Weil Reichskanzler Franz von Papen am 17. November 1932 seinen Rücktritt erklärt hatte, machte sich Hitler Hoffnungen auf sein Gespräch mit dem Reichspräsidenten am 19. November. Zu seinem Ärger gelang es aber nicht, die Eingabe vor diesem Termin einzureichen. Sie hatte auch keinen unmittelbaren Erfolg, Hindenburg lehnte Hitler als Reichskanzler weiterhin ab und ernannte stattdessen Kurt von Schleicher.

Die in der marxistischen Literatur teilweise vertretene These, Hitlers Machtübernahme sei als Erfüllung eines Auftrags der Großindustrie zu verstehen, wie er in der Industrielleneingabe formuliert worden sei[12], wird in der heutigen Fachliteratur einhellig abgelehnt. Gegen diese These sprechen nicht nur die oben referierten Argumente, sondern auch allgemeinere Erwägungen: Eine politische Veränderung dieses Ausmaßes lasse sich nicht monokausal auf das Wirken einer Gruppe, auch nicht einer so mächtigen Gruppe wie des Großkapitals, reduzieren. Es müssen die unterschiedlichen Interessen, Machtressourcen und Pläne der beteiligten Akteure (Parteien, Wirtschaftsverbände, Politiker) in Rechnung gestellt werden, sonst handele es sich lediglich um eine Verschwörungstheorie. Heute wird allgemein davon ausgegangen, dass die Bedeutung der Industrielleneingabe in diesem Handlungsgeflecht allenfalls marginal war. Sie kann jedoch als ein Beleg dafür angesehen werden, dass es in den letzten Jahren der Weimarer Republik zu Annäherungen zwischen bestimmten Industriellen und der NSDAP kam und dass es Großindustrielle gab, die Hitlers Ernennung bei Hindenburg durchsetzen wollten.

Siehe auch [Bearbeiten]

Literatur [Bearbeiten]

Weblinks [Bearbeiten]

Einzelnachweise [Bearbeiten]

  1. Werner Maser: Hermann Göring, Hitlers janusköpfiger Paladin. Berlin 2000, S. 140 f.
  2. Albert Schreiner: ÆDie Eingabe deutscher Finanzmagnaten, Monopolisten und Junker an Hindenburg für die Berufung Hitlers zum Reichskanzler (November 1932)“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 4 (1956), S. 366–369.
  3. Eberhard Czichon: Wer verhalf Hitler zur Macht. Köln 1967, S. 71 f.
  4. Erich Helfferich: 1932-1946 Tatsachen, Ein Beitrag zur Wahrheitsfindung. Jever 1969, S. 19.
  5. Dietrich Eichholtz, Wolfgang Schumann (Hrsg.): Anatomie des Krieges. Berlin 1969, S. 88 f.
  6. Wolfgang Ruge: Deutschland 1917–1933. Berlin 1967, S. 412.
  7. Wolf Heß (Hrsg.): Rudolf Heß, Briefe 1908–1933. München/Wien 1987, S. 413 f.
  8. Joachim Petzold: Die Demagogie des Hitlerfaschismus. Berlin 1982, S. 373 ff.
  9. Eberhard Czichon, Wer verhalf Hitler zur Macht, Köln 1967, S. 69 ff.
  10. Louis Lochner: Die Mächtigen und der Tyrann. Darmstadt 1955, S. 133 f.
  11. Weimarer Republik, hg. v. Kunstamt Kreuzberg, Berlin und dem Institut für Theaterwissenschaft der Universität Köln, Elefanten Prsse, Berlin (West) und Köln 1977, S. 328
  12. Vgl. z. B. den Artikel ÆDenkzettel für Hindenburg“ von Kurt Pätzold in der Tageszeitung junge Welt vom 19. November 2007.