5000
oder doch 500 000
  Wie viele Opfer die Medizin jährlich fordert, weiß keiner so genau
  
  Von Werner Bartens
  
  München - Voltaire war skeptisch gegenüber Medizinern: "Ärzte
  geben Medikamente, von denen sie wenig wissen, in Menschenleiber, von denen
  sie noch weniger wissen, zur Behandlung von Krankheiten, von denen sie
  überhaupt nichts wissen", hat der Aufklärer gesagt. Obwohl die
  Fortschritte seit Voltaires Zeit groß sind, ist bis heute unklar, wie
  viele Opfer die Medizin fordert. Viele Fehler und Komplikationen werden gar
  nicht als solche erkannt. "Man weiß oft nicht, woran jemand im Krankenhaus
  gestorben ist", sagt Johann Neu von der Schlichtungsstelle für
  Haftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern.
  Neu berichtete 2007 im Deutschen Ärzteblatt von mehr als 10 000 Verfahren,
  die 2000 bis 2003 in der Schlichtungsstelle abgeschlossen wurden. Die Stelle
  bearbeitet die Hälfte aller Schlichtungsfälle bundesweit. Knapp
  ein Drittel der Schäden ging auf ärztliche Therapiefehler zurück.
  Ein weiteres Drittel entstand zwar auch durch die Behandlung, aber nicht
  durch eine fehlerhafte. Das restliche Drittel ging auf das Grundleiden
  zurück. Das Robert-Koch-Institut schätzt, dass mindestens 40 000
  Patienten in Deutschland jährlich Ansprüche erheben.
  Studien aus anderen Ländern zeigen, dass drei bis vier Prozent der Patienten
  in der Klinik zu Schaden kommen. Bezogen auf 17 Millionen Behandlungen, die
  jährlich in deutschen Kliniken stattfinden, würde das horrende
  Zahlen ergeben: 500 000 Menschen erlitten jährlich Schäden durch
  die Medizin, 140 000 davon durch Behandlungsfehler.
  
  Ähnlich ungenau sind Angaben zu Todesfällen. Für die USA war
  das Institute of Medicine 2000 zu dem Schluss gekommen, dass dort jährlich
  44 000 bis 98 000 Menschen durch Medizinirrtümer ums Leben kommen. "2006
  wurden uns 28 Todesfälle gemeldet, die auf Fehler zurückgingen
  - zudem 30 Todesfälle nach Therapien, auch wenn keine Fehler vorlagen",
  sagt hingegen Johann Neu.
  
  Medikamentenzwischenfälle sind viel schwerer aufzudecken als OP-Fehler.
  "Arzneimittel zu geben ist ein Hochrisikoprozess", sagt Daniel Grandt von
  der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Der
  Sachverständigenrat im Gesundheitswesen schätzt in seinem Gutachten
  2007, dass 80 000 Patienten jährlich in Deutschland wegen Nebenwirkungen
  ins Krankenhaus müssen. 40 Prozent der Fälle wären vermeidbar,
  vermuten Experten. Einer Studie im Fachblatt Archives of Internal Medicine
  2007 zufolge hat sich in den USA die Zahl schwerer
  Arzneimittelzwischenfälle seit 1998 von 35 000 auf 90 000 mehr als
  verdoppelt. Todesfälle durch Medikamente haben sich von 5500 auf etwa
  15 000 sogar nahezu verdreifacht. "Das derzeitige System schützt die
  Patienten nicht genug", sagt Thomas Moore vom Institute for Safe Medication
  Practices in Pennsylvania.
  
  Ungewiss sind Angaben für Deutschland - es fehlt ein Register. "Es gibt
  keine belastbaren Daten, aber man kann Zahlen aus den USA oder Kanada
  übertragen", sagt Grandt. "Die Dimension ist mit den 5000 jährlichen
  Todesfällen im Straßenverkehr vergleichbar - gegen diesen Missstand
  wird aber weitaus mehr getan." Das Bundesinstitut für Arzneimittel und
  Medizinprodukte (BfArM) gibt 15 000 bis 17 000 unerwünschte Nebenwirkungen
  durch Medikamente jährlich an. Dazu zählen 1200 bis 1400 tödliche
  Komplikationen. "Das sind weder alle Nebenwirkungen noch Todesfälle",
  sagt Ulrich Hagemann vom BfArM, das die Arzneimittel überwacht. "Leider
  muss man vermuten, dass die Mehrzahl der Ärzte keine Nebenwirkungen
  meldet."
  
  Quelle: Süddeutsche Zeitung
  Nr.50, Donnerstag, den 28. Februar 2008 , Seite 9
  
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