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Geiss Haejm

Die Zeremonienmeister

Gedanken bei der Beerdigung meiner Großmutter 1989

Audioaufzeichnung des Textes

© edition baam zwiesel


Die Kirche ist ein großer Zeremonienmeister. Die Suche nach göttlichen Lehren, zwischen alle dem feierlichem Mummenschanz und den geleierten Förmlichkeiten, ist mühsam. Daß ich darüber enttäuscht bin und das ganze Theater zum Thema mache, zeigt, daß mir das Ganze noch immer nicht gleichgültig ist. In keinem Fall läßt sich daraus auf eine Geringschätzung der christlichen Lehren schließen. Im Gegenteil, ich schätze viele Weisheiten des Prediger Salomon und des Nazareners, was die Kirche drum herum veranstaltet, empfinde ich als unangemessen und unchristlich.

Jahrelange Distanz zur Kirche haben mich schon fast vergessen lassen welche Formeln, Beschwörungen und Bewegungsabläufe die katholischen Messen füllen. Bei der Beerdigung meiner geliebten Großmutter wurde mir dieser ganze Spuk wieder in Erinnerung gerufen.

Schon am Kircheneingang stand wie ein Wächter das Weihwasserbecken (daß es das immer noch gab!) Geweihtes Wasser - was dies wohl mit dem Gott der Feindesliebe zu tun hat?

Die Trauergäste tauchten ihre Daumen hinein und bekreuzigten damit Stirn, Kinn und Brust, von mir und den Meinen dasselbe erwartend. Ich achtete nicht darauf und wies - mit einer überflüssigen Geste - meiner Familie den Weg zum Mittelgang der Kirche. In meinem Rücken spürte ich förmlich die befremdeten Blicke. Um zu den Familienangehörigen in der vordersten Bank zu kommen, mußten wir den Mittelgang unter dem mächtigen neugotischem Kirchenschiff durchqueren, vorbei an einer überraschend großen Anzahl von Menschen. Die Großmutter - die schon seit Jahren nicht mehr unter die Leute gekommen war und stets ein vergleichsweise zurückgezogenes Leben geführt hat - mußte mit ihren neunzig Jahren doch zu den Letzten ihrer Generation gehören, weshalb ich neben der Verwandtschaft und den Nachbarn kaum Trauergäste erwartet hatte. Aber offensichtlich hatten mehr Menschen die alte Frau gekannt. Oder waren sie nur indirekt wegen der Großmutter da, etwa um den trauernden Angehörigen ihre Verbundenheit auszudrücken? Wie immer waren eine Reihe von älteren Leuten da, die beinahe keine "Leich" versäumen. Über ihre Beweggründe kann man nur rätseln: Neugierde? Zeitvertreib? Die kindliche Hoffnung, beim eigenen Begräbnis auch nicht allein gelassen zu werden?

Ich kenne manchen, den diese Sorge - so absurd sie auch sein mag - dazu bringt einer Vielzahl von Vereinen lebenslang die Treue zu halten, damit beim Begräbnis die Kirche einmal voll ist und auf dem Grab reichlich Kränze liegen... Wieviele treten alleine deshalb nicht aus der Kirche aus, obwohl sie ihr zu Lebzeiten jahrzehntelang den Rücken kehren?

Die Trauergäste hemmten mich frei durch den Mittelgang zu schreiten und die Hände dort zu lassen, wo sie von Natur aus hängen. Irgend ein eingeübter Mechanismus legte sie mir vor meinem Bauch ineinander. Mein Kopf, normalerweise erhoben, neigte sich in anpasserischer Demut leicht nach vorne. Trotzdem hatte ich das Gefühl, jeder der Anwesenden würde auf mich starren und sehen, daß ich in dieser Kirche ein Fremdkörper war. Meiner Frau und den beiden Kindern erging es ähnlich.

Dann mußten wir uns trennen, denn die Frauen saßen wie eh und je links vom Mittelgang, die Männer rechts. Als ich mit meinem Sohn an der ersten Reihe, bei meinem dort bereits sitzenden Vater anlangte, war da wieder das, durch langjährigen Brauch, gewachsene Gefühl, vor dem Betreten der Reihe ein Knie in Richtung Altar beugen zu müssen. Doch ich senkte nur den Kopf und nickte mit ernstem Gesicht kurz den in der Nähe sitzenden Verwandten zu. Mein Vater, der am Rande der Bank saß, lächelte uns zu - erkennbar froh darüber, nicht mehr allein in der ersten Reihe sitzen zu müssen. Er ließ uns, dabei aufstehend, an ihm vorbei in die Reihe rutschen. In ihr gab es überaus wenig Platz für die Beine, da eine niedrige Bank zum Knien den knapp bemessenen Fußraum stark einengte und gegen die Schienbeine drückte, was zu krampfhaftem Aufrechtsitzen zwang. Stellte man die Füße auf die Bank, wirkten die in spitzen Winkel hochragenden Knie recht flegelhaft. Ich erinnerte mich: früher war es immer mein Wunsch gewesen, genauso hoch aufragende Knie zu haben, wie meine älteren Freunde...

Mein Blick wanderte durch die renovierte Kirche und fand ihre mächtigen gotischen Säulen und Bögen und die vertrauten farbenprächtigen Fenster, deren biblische Szenen ich vor fünfundzwanzig Jahren so oft tagträumend betrachtet hatte. Auch der Kreuzweg, bestehend aus beeindruckend realistisch geschnitzte Holzreliefs war noch da - doch wie sah der heute aus! Das vertraute Schnitzwerk hatte man mit pseudogotischen Türmchenrahmen und goldenem Hintergrund aufgemotzt! Ich empfand dies als unerlaubte Verkitschung und ärgerte mich darüber. Dann vertiefte ich mich wieder in die bekannten Martyriumsszenen und spürte fast vergessene Gefühle in mir auftauchen. Auch im Altarraum hatte sich einiges geändert - offenbar wurde dieser kaum mehr benützt, denn davor stand ein neuer, massiger Steinaltar, etwa zehn Meter näher an den Gläubigen. (Sollte dies ein Zeichen dafür sein, daß die Priester neuerdings die Nähe der Menschen suchten? Oder war es nur eine optische Anpassung an die geschrumpfte Zahl der Kirchgänger?)

Übertrieben rustikal wie der Altar wirkte das ähnlich gebaute, tonnenschwere Predigerpult. Alles wirkte klobig und ich spürte Machtanspruch daraus und schlechten Geschmack der Kirchenoberen. Wollte man damit den am Pult gesprochenen Worten Gewicht verleihen? Sie mit Tonnenschwere stützen?

Das zu beiden Seiten des Altares aufgestellte neue, ebenfalls antike Solidität suggerierende Chorgestühl, mit seinen gotischen Spitzbögen nachempfundenen Rückenlehnen, wollte mir ebenfalls nicht gefallen und beschäftigte meine Gedanken minutenlang.-

Von draußen drang das leise Geratter eines Preßlufthammers in die feierliche Stille, lauter werdend, wenn neue Menschen die Kirche betraten. Eine Weile überlegte ich, ob ich hinausgehen und die Arbeiter bitten sollte, eine Stunde innezuhalten, gewohnt mich als Leiter überall einzumischen. Doch dann verloren sich meine Gedanken wieder im traurigen Anlaß unseres Hierseins.

Nach etwa zehn Minuten belebte sich der Altarvorraum. Ein junger Mesner und ein Ministrant stellten vor dem Altar einen Sammelbehälter für Geld auf, der an einen Standaschenbecher erinnerte. Es wurden nun die Sterbebilder für die Großmutter verteilt. Die Menschen suchten nach Kleingeld und reihten sich, aus den Bänken tretend, hintereinander, um einen, der auf Hochglanzpapier gedruckten Sterbezettel zu bekommen. Die Angehörigen führten den Reigen an. Die Männer traten links aus den Bänken, die Frauen rechts und alle reihten sich separat aneinander und bewegten sich langsam nach vorne, warfen, wenn sie den Ministranten erreicht hatten, eine Münze in den aufgestellten Behälter und bekamen dafür das Bildchen, mit den Geburts- und Todesdaten meiner Großmutter und einem überraschend treffenden Spruch über ihr Leiden der letzten Zeit,- mußten dann an der vordersten Bank an den Angehörigen vorbei, um dann vom Seitengang aus, wieder in ihre eigene Bank zu treten.

Dieses Zeremoniell ermöglicht den Angehörigen zu beobachten, wer an der Trauerfeier teilnimmt. Ich kannte die meisten der Männer, kaum einer von Ihnen war jünger als sechzig Jahre. Einige sah ich nach Jahrzehnten erstmals wieder, entsprechend durch die Jahre gezeichnet. Da waren alte Nachbarn, Bekannte und Freunde meines Vaters, viele auch noch der Großmutter direkt verbunden. Auch ein paar Ladenbesitzer waren darunter, bei denen die Großmutter früher ihre Besorgungen machte. Es waren allesamt einfache Männer und bei vielen wirkte ihr schwarzer Anzug wie ein Fremdkörper, es roch nach Naphthalin. Einige der Männer waren dick geworden, die anderen elendig mager; einige bewältigten die kurze Wegstrecke nur auf einen Gehstock gestützt. Die meisten schritten verlegen an uns vorbei und suchten mit erkennbarer Hast wieder in die Geborgenheit ihrer Reihe zu gelangen. Einem beleibten Arbeiter ragte unter dem viel zu engen Anzug ein Hirschmesser aus der hinteren Hosentasche. Andere, wie ein in der Nachbarschaft wohnender Stadtrat, schritten, das Agieren in der Öffentlichkeit gewohnt, gemessenen Schrittes. Ein alter Nachbar kniff mich vertraulich in der Wange, ein anderer klopfte im Vorbeigehen meinem Vater aufmunternd gegen die Seite, andere nickten meinem neben mir sitzenden Bruder zu. Ich senkte den Kopf, weil ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen traten. Tief atmend versuchte ich mich durch gänzlich andere Gedanken abzulenken, wie ich es bei angenehmerer Gelegenheit oft praktizierte. Gedankenstop! Weiße Wand, Zeisig auf der Tannenspitze, Kartoffeln sortieren, Führerscheinprüfung...

Als alle wieder in ihrer Bank saßen, trat ein Priester mit zwei Ministranten in den Altarraum. Er war noch recht jung und schlank und trug die Haare kurz geschnitten, fast wie ein buddhistischer Mönch. Er musterte, wie es schien, die Angehörigen in der ersten Reihe, von denen die meisten seinem Blick auswichen und die Augen senkten. Ich erwiderte seinen Blick, der ausdruckslos war, nicht unfreundlich, aber auch nicht freundlich. Dann begann der Geistliche mit der Messe. Als er zu Beginn einige Male den Namen der verstorbenen Großmutter nannte, mußte ich wieder mit den Tränen kämpfen, doch merkte ich bald, daß der Name für den Priester nur ein Wort war, das er in seine fertigen Trauerphrasen einbaute. Es ging eigentlich überhaupt nicht um die Großmutter. Der Priester spulte seine Messe ab, mit Gebetsformeln, die die Anwesenden nachzuplappern oder mit anderen Formeln zu beantworten hatten. Dazu gehörten bestimmte Bewegungsabläufe, wie Aufstehen, Setzen oder Knien, letzterem wurde auf der Männerseite nur andeutungsweise nachgekommen. Dazwischen ertönten von der Empore feierliche Orgelklänge und der Gesang eines bezahlten Trauerchores. Endlich kam die Predigt. Als der Kaplan darin wieder den Namen der Großmutter nannte, war in mir bereits alle Trauer gestorben, von Formeln totgelabert. Nachdenkenswert war der Vortrag nur einmal, als von der heute üblichen Praxis erzählt wurde, nur bei Erleben von Ausnahmesituationen von eigentlichem Leben zu sprechen. So meinten viele Menschen beispielsweise, nur im Urlaub wirklich zu leben. Auf das Warum dieser Denkhaltung, ging der Redner nicht ein. Er behauptete nur, daß wirkliches Leben im Alltag stattfände, wobei er den Schlenker zum überaus harten Leben der Großmutter geschafft hatte, deren Leben derartige Ausnahmesituationen nicht vorzuweisen hatte. Der Kaplan schilderte die Verstorbene als treusorgende Frau, die zwei Weltkriege und die harten Zeiten dazwischen und danach zu ertragen hatte (ich spürte wieder Tränen in die Augen steigen), streifte in einem halben Satz ihr schweres Leiden der letzten Zeit, erwähnte die aufopfernde Pflege durch die Angehörigen, und bezeichnete dann die Großmutter noch kurz als vorbildhafte Katholikin, die ihr Leben lang die heilige Eucharistie über alles geschätzt habe (ich erinnerte mich an ihre regelmäßigen sonntäglichen Kirchgänge). Dann forderte der Priester die Trauergemeinde auf zu beten, damit der Toten ihre Sünden schnell vergeben würden und stellte fest, daß sie ja schon durch die Taufe zu einem Kind Gottes geworden sei - mein Sohn neben mir war dann also kein Kind Gottes, weil an ihm die Taufe nicht vollzogen worden war - und erbrach sich dann wieder in Phrasen und Formeln. Die Gläubigen plapperten ihm nach und nicht nur die Männer der ersten Bank schwiegen, was aber ein genau hinter mir sitzender Religionslehrer durch seine demonstrative Lautstärke wettmachte...

Ich wußte nun wieder, was mich als Jugendlichen aus der Kirche vertrieben hatte. Es hatte bei mir vergleichsweise lang gedauert, denn ich war recht fromm. Als meine Freunde die Kirche schon lange als einen spießigen, verlogenen Altweiberzirkus geringschätzten (sich ihrer aber noch heute gedankenlos als Zeremonienmeister bei Hochzeiten, Taufen und Begräbnissen bedienen), machte ich mich mit sechzehn Jahren auf die Suche nach den Wurzeln des christlichen Glaubens, kaufte mir aus freien Stücken eine Ausgabe des Neuen Testamentes und las die Botschaften der vier Evangelisten. Dabei öffnete sich ein Abgrund zwischen dem, was da stand und dem, was in der Kirche passierte. (Deswegen war das Studium der Bibel im finsteren Mittelalter den einfachen Gläubigen wohl auch verboten worden.)

In den Folgejahren erfuhr ich dann vieles über die blutige Geschichte des Katholizismus, vom Völkermord an sogenannten heidnischen Völkern, von den millionenfachen Morden der "heiligen" Inquisition, von kriegführenden Päpsten, von als Kreuzzügen verbrämten Eroberungszügen, von riesigen Kirchenschätzen, von der Kumpanei mit den skrupellosesten weltlichen Herrschern, von der Segnung der schrecklichsten Massenvernichtungswaffen, vom päpstlichen Verbot der Geburtenkontrolle, trotz Umweltzerstörung und Übervölkerung. Widerstrebend erkannte ich, daß diese Kirche, der ich als Mitglied angehörte, nur eine leere Hülse war und irgendwann konnte ich ihre Scheinheiligkeit und ihre leeren Sprüche, mit denen sie die Menschen einlullte und verdummte, nicht mehr ertragen.

Als der Priester nun im Verlaufe der Totenmesse das Vaterunser einforderte und es die meisten Anwesenden als Leerformel herunterleierten, spürte ich wieder den Zorn, den ich schon als Jugendlicher dabei empfunden hatte. Hatte Jesus mit diesem Gebet nicht die Menschen lehren wollen, individuell mit ihrem Gott zu sprechen? Sagte er nicht, man solle im Verborgenen beten und nicht plappern wie die Heiden?

In meiner Kindheit war die Messe noch in lateinischer Sprache gelesen worden. Wie verkleidete Zauberer murmelten die Priester damals unverständlichen Hokuspokus, so als wären sie im Besitz der Sprache des lieben Gottes. Als später die Formeln in deutsch gesprochen wurden, sagten viele Katholiken, die Messe hätte dadurch viel von ihrer Feierlichkeit verloren, wahrscheinlich, weil man die vielen Plattheiten auf einmal verstand. Natürlich suchen diese Menschen in den Kirchen nicht das Evangelium sondern mystische Abläufe. Entwicklungsmäßig standen sie etwa auf derselben Stufe wie die von ihnen verachteten Naturvölker, die sich vom okkulten Klamauk ihrer Medizinmänner verzaubern lassen. Im Kopf waren sie allesamt Schafe, die nicht über ihr Tun nachdenken und gedankenlos Vorgaben imitieren. So wie bei Hunden eine Glocke Speichelfluß ausgelöst, wenn man sie zuvor eine Zeitlang zusammen mit Futter ertönen läßt,- so löste das Drumherum einer Messe in den Gläubigen das Abschalten des Verstandes aus.

Oder sah ich das falsch? Sprach aus mir vielleicht immer noch pubertäre Unreife? Fehlte es mir vielleicht nur an der Einsicht in die wohltätigen Wirkungen der religiösen Bräuche? Doch für mich war es eine Schande, wenn Gläubige, die sich als Gottes Ebenbild begreifen, ihrem Gott damit angenehm aufzufallen suchten, in dem sie ihren Verstand am Weihwasserbecken wegwuschen und ihm mit geplapperten Formeln und eingeübten Bewegungsabläufen zu gefallen suchten. Dieses mechanische, hirnlose Verhalten mußte Gott, wenn es ihn gab, zweifellos beleidigen. Konnte er auf solche Geschöpfe stolz sein, konnten Einfaltspinseln seine Ebenbildern sein? Bei solchen Schlüssen fühlte ich Gleichklang von Verstand und Gefühl und in mir war nicht die geringste Spur eines Zweifels an der Berechtigung meines Zorns, der zweifellos ein heiliger war. Doch gab es einen allmächtigen Gott, der alles erschaffen hatte, war er für sein Werk verantwortlich, also auch für die Irrungen seiner Geschöpfe. Er konnte den einen ihre Gedankenlosigkeit sowenig vorwerfen, wie den anderen ihre Zweifel und ihren kritischen Verstand. Der Maurer ist für die von ihm errichtete Mauer verantwortlich und der Bäcker für sein Brot. Hinge dieser Gott (wie manche Leute) der Illusion der menschlichen Willensfreiheit nach, die prägende Wirkung von Sozialisation und Erziehung leugnend und würde, trotz aller Unterschiedlichkeiten, seine Geschöpfe über einen Kamm scheren, mochte ich mit ihm nichts zu tun haben, ja, ich mußte ihn aus Gewissensgründen ablehnen (für deren Existenz er ja zweifellos auch mitverantwortlich wäre). Ebensowenig lag mir an der Gnade eines Gottes, der seine Schäfchen - nach ihrem Ableben - an der Mitgliedschaft in einer bestimmten Organisation messen würde, die noch dazu in aller Regel fremdbestimmt war, durch die Vergewaltigung bei der Kindertaufe. Wenn es einen Gott gab, dann war er anders, als ihn sich ein paar kleinkarierte Menschlein vorstellten.

Da nicht Gott die Menschen nach seinem Bilde, sondern umgekehrt die Menschen Gott nach ihrem Bilde geschaffen hatten, mußte naturgemäß dabei eine Karikatur der Menschen selber herauskommen, ihr Gott hatte überwiegend die Eigenschaften der Obrigkeit auf Erden: er war ein kleinlicher Bürokrat und patriarchalischer Machtmensch, voller Komplexe und Neurosen, rächend, den Untertanengeist fordernd, die "Seinen" gegen die "Anderen" schützend usw.

Dennoch wollte und konnte ich mich seinerzeit nicht vom vertrauten Gottbegriff trennen. Mir gefiel die Idee von der Existenz eines Allvaters, einer Allmutter, oder noch besser: eines Allneutrums, zu dem man jederzeit flüchten und sich geborgen fühlen kann. Selbst wenn diese Oberinstanz nur im eigenen Kopf existierte, konnte die Vorstellung von ihm ein großartiges Gefäß sein, um den Plan vom Guten zu bergen, mit dessen Hilfe Menschen über ihren eigenen Bauch hinauswachsen konnten. So wie ein Plan nur eine Hilfskonstruktion für ein Gebäude, eine Brücke oder ähnlichem war, so sollte Gott das Geländer sein, an dem man ich mich bei Bedarf stützen konnte. Doch ich konnte diesen selbstausgedachten Gott nicht lieben, so wenig wie sonst irgend jemand Gott lieben kann, es sei denn er hat dieses Wort mit einer konkreten Vorstellung verknüpft.-

Ich war also zeitweise ohne Gott, denn den bärtigen Gottvater meiner Kindheit, der gestreng das Treiben der Menschen beobachtet und sich darüber detaillierte Aufzeichnungen anfertigt, um sie später nach ihrem Tode in die Hölle zu schicken oder sie bei Wohlverhalten gnädig bei sich aufzunehmen, konnte ich erst recht nicht lieben, er war für mich nur noch eine naives Zerrbild der Menschen.

Da fand ich im Matthäus-Evangelium, im Abschnitt über das Jüngste Gericht, einen Absatz, der mir eine brauchbare Handlungsanweisung gab, um wieder mit einem Gott leben zu können. Da stand klipp und klar: Gott belohne diejenigen Menschen mit ewigem Leben, die ihn als Hungrigen gespeist, als Durstigen getränkt, als Fremden beherbergt, als Nackten bekleidet und als Kranken und Gefangenen besucht hätten, wobei man Gott diese Freundlichkeiten nur erweisen könne, wenn man sie Menschen erweist, "den Geringsten meiner Brüder", wie sich Jesus ausdrückte. Nach dieser Weisung kann man Gott also nur dienen, wenn man sich um die Menschen kümmert. Dies bedeutet, daß für Menschen Gott nur über Menschen erreichbar ist: Wer sich ihrer annimmt und sie liebt, nimmt sich Gott an und liebt ihn. Im Mitmenschen war also Gott, folglich war er auch in mir. Diese Offenbarung gefiel mir über alle Maßen, schien sie mir doch der Schlüssel zu einer glücklicheren Welt zu sein. Da war keine blödsinnige Anbetung eines Geistes gefordert, dem man mit dem Murmeln von leeren Phrasen zu gefallen sucht, um dann beruhigt im Alltag wieder an den eigenen Vorteil denken zu können.-

Bei meinem Bibelstudium fand ich eine ganze Reihe von Formulierungen, deren Weisheit mir göttlich erschien, die ich aus der übrigen Spreu herausklaubte und zu verinnerlichen suchte. Etwa wenn Jesus die Sanftmütigen seligpries, oder die Barmherzigen, die Leidenden, die nach Gerechtigkeit Hungernden, die Menschen "reinen Herzens", die Ungebildeten und Friedfertigen. Oder wenn geschrieben stand, man solle keine Schätze auf Erden ansammeln, denn man könne nicht Gott dienen und dem Mammon. Oder noch deutlicher: Es ginge leichter ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß ein Reicher ins Reich Gottes komme! Und daß Menschen nicht über andere richten sollen, nicht über Splitter in den Augen der anderen klagen und gleichzeitig Balken in den eigenen Augen übersehen.

Wenn es bei diesen großen Weisheiten überhaupt noch eine Steigerung gab, dann war es noch diese, daß dieser Jesus mit dem Gebot der Feindesliebe versuchte (wenn auch mit wenig Erfolg) den unseligen Teufelskreis von Unrecht und Vergeltung zu verlassen.

Andere Aussagen in den Evangelien stießen mir dagegen sauer auf, sie erschienen mir ganz und gar ungöttlich, von Menschen leichtfertig oder in böser Absicht eingeschmuggelt, auf Mißverständnissen, Hörfehlern, falschen Übersetzungen oder ähnlichem zu beruhen. Schließlich wurden die Lehren des Jesus von Nazareth erst Jahrzehnte später schriftlich fixiert und jeder weiß, daß selbst unmittelbar nach einem Vortrag von den Zuhörern, durch die Vermischung des Gehörtem mit eigenen Überlegungen, die abenteuerlichsten Interpretationen gegeben werden. Das dies erst recht nach Jahrzehnten und mehreren Stationen mündlicher Weitergabe zu erwarten ist, durch Übersetzungen in andere Sprachen zusätzlich gefördert, kann wohl kaum bestritten werden. Durch massive Verfolgung und Einschüchterung der Augen- und Ohrenzeugen flossen wohl auch Zugeständnisse an weltliche Mächte mit ein, manchmal vielleicht auch als Argumentations- und Überzeugungshilfe, vielleicht aber auch als bewußte Manipulationen.

Nun magst du dich als Leser fragen, wie ich mir anmaßen kann oder konnte, göttliches von profanen unterscheiden zu können? Ganz einfach- für mich war all das göttlich, was den Egoismus der Menschen überwinden und ihr Zusammenleben friedfertiger zu machen suchte, profan alles andere. Ich war der Auffassung, daß jeder- wenn er nur unvoreingenommen in sich hineinhorchte- das göttliche spüren konnte.-

Zu einer Zeit, als ich zur Amtskirche schon seit Jahren alle Kontakte abgebrochen hatte, veranlaßten mich zwingende Gründe, eine Stelle als Erzieher in einem Klosterinternat anzunehmen. So holte mich die bereits überwunden geglaubte geistige Enge wieder ein, und ich geriet wieder in den alten katholischen Sumpf. Über drei Jahre versuchte ich die Strukturen im Kloster zu liberalisieren und zu demokratisieren, doch es gelangen mir nur kosmetische Verbesserungen. Ich zog mich auf die, oben als göttlich bezeichneten, Lehren zurück und verweigerte alle Formeln und mechanisierten Bewegungsabläufe. Da man mich notwendig brauchte, ließ man mich gewähren. Anders als Sisyphus ließ ich meinen Stein aber irgendwann im Tal liegen und suchte mir entnervt eine andere Stelle.

Meinen eigenen Kindern wollte ich aber jede Verkrüppelung durch den Katholizismus ersparen. Trotzdem scheute ich lange vor dem Kirchenaustritt zurück. Als ich eines Tages aber in der Zeitung las, daß die Kirche zwei körperlich behinderten Menschen die Ehe nicht gestattete, weil sie nicht zeugungsfähig waren, gab mir der Zorn die Kraft, diese unmenschliche Kirche zu verlassen. Doch um die eigenen Kinder im kleinstädtischen Milieu nicht zu Außenseitern zu machen und sie in christlich- humaner Grundhaltung aufwachsen zu lassen, trat ich in die evangelisch-lutherische Kirche über, ohne aber mehr über sie zu wissen, als daß ihr Begründer manche der besonders schlimmen katholischen Zöpfe abgeschnitten hatte. Dazu kamen einige prominente evangelische Geistliche, wie Albertz, Scharf und Niemöller, die mir durch ihre Zivilcourage und ihr Eintreten für die militärische Abrüstung imponierten. Doch der Katholizismus holte uns wenige Jahre später ein: in der zweiten Klasse Grundschule kam Tochter Astrid weinend nach Hause, weil die katholische Religionslehrerin, eine ältere Ordensschwester, die katholischen Kinder aufhetzte, nicht mit den evangelischen zu spielen, weil diese keine so reinen Seelen hätten. Ich beschwerte mich empört in der Schule und drohte mit Anzeige. Als ich das Thema auch bei einer Elternversammlung vorbrachte, sagte man mir, jene Religionslehrerin sei seit vielen Jahren für ihren Fanatismus und ihre unglaublichen Ansichten bekannt. Eine Mutter berichtete von Einschlafstörungen ihrer Tochter, weil die Ordensschwester im Unterricht aufforderte, vor dem Schlafen unters Bett zu schauen, ob nicht der Teufel darunter hocke. Dies passierte im Jahre 1982 in der Kneippstadt Bad Wörishofen...

Je länger die Totenmesse andauerte, um so weniger konnte ich über die Verstorbene trauern, denn die Zeremonie stellte alles andere in den Vordergrund, nur nicht meine Großmutter. Ich versuchte an sie zu denken und die Messe zu ignorieren.

Sie war erst wenige Tage vor ihrem Tode neunzig Jahre alt geworden, doch ihr Geburtstag war kein Grund mehr zum Feiern gewesen. Sie litt seit Jahren an Schilddrüsenkrebs, der sich wie ein Höcker auf ihrer Brust wölbte. Vor einigen Monaten brach dann das Geschwür nach außen durch, und in einer Notoperation wurde der Höcker beseitigt. Zurück blieb ein mehrere Zentimeter breites Loch, aus dem permanent Eiter und Blut sickerte und widerlichen Gestank verbreitete. Meine Eltern mußten die Großmutter nun rund um die Uhr, oft zehnmal am Tag verbinden, eine grauenhafte Prozedur, die sie körperlich und seelisch stark angriff. Vor allem meine Mutter, selber krank, machte oft den Eindruck, als würde sie noch vor der Großmutter sterben. Dazu kam, daß diese seit Jahren schwerhörig und an manchen Tagen geistig verwirrt war und unter großen Schmerzen litt. Sie mußte gefüttert und gewaschen werden, brauchte Hilfe bei ihrer Notdurft und saß nur noch als Häuflein Elend in ihrem Sessel, konnte aber nicht sterben. Die letzten Tage konnte sie sich vor Schmerzen fast nicht mehr bewegen, es war zum Steinerbarmen. Der Hausarzt war hilflos, in die Klinik konnte er sie nicht einweisen, da sie dort als Pflegefall nicht hingehörte, außerdem hätte man sie dort festbinden müssen, da sie schon nach der Operation dauernd weggelaufen war. Das Martyrium der Großmutter mit einer Spritze zu beenden, verbot der hippokratische Eid und die geltenden Gesetze. Ärzte dürfen nur das Leiden verlängern (was auch mehr einbringt). Ohne die Operation wäre die alte Frau längst von ihrem Dahinsiechen erlöst gewesen. Ich wußte, daß in Deutschland wegen der Verbrechen der Nazis, Euthanasie ein Tabuthema war. Auch für mich, bis ich bei meiner Großmutter erlebte, wie unmenschlich die heutige Praxis ist. Jedes Tier bekommt einen Gnadenschuß, nur dem Menschen werden seine Leiden noch künstlich verlängert.

Natürlich will ich, daß jedem Menschen geholfen wird, solange noch die Spur einer Chance besteht, doch nicht gegen seinen Willen und nicht in Fällen, wo eine Lebensverlängerung nur Menschenquälerei ist. Im Falle meiner Großmutter hätte man beispielsweise die Zustimmung der nahen Verwandten einholen, und neben dem Hausarzt noch einen zweiten oder dritten Facharzt mitentscheiden lassen können, so daß jeder Mißbrauch unmöglich gewesen wäre.

Ich hatte meine Großmutter sehr geliebt und ihr Leiden mitzuerleben, war für mich daher sehr schlimm. Daß der Tod sie endlich erlösen sollte, war über Wochen mein größter Wunsch. Sie, die immer alles für mich gegeben hatte, diese gute und stolze Frau bei lebendigem Leibe verfaulen zu sehen, war die vielleicht schlimmste Erfahrung meines bisherigen Lebens. Ich möchte an alle Verantwortlichen appellieren, das humane Sterben als elementares Menschenrecht in unsere Rechtsordnung aufzunehmen und Bestimmungen zu entwickeln, die es vor Mißbrauch bewahren! Doch glaube ich, daß es nicht nur die Naziverbrechen sind, die eine menschliche Regelung verhindern, sondern (neben religiösen Dogmatismen) wohl tatsächlich auch ärztliche Pfründe, denn das Sterbehilfe eine Schmälerung des ärztlichen "Besitzstandes" mit sich bringt ist klar.

Nach der Messe ließ der junge Pfarrer die Anwesenden lange warten, bis er - begleitet von Ministranten, die eine Fahne und einen Weihrauchbehälter trugen - aus der Sakristei kam und die Führung des Trauerzuges übernahm. Erst dachte ich, der Pfarrer wollte sich mit seiner Bummelei dafür rächen, daß so wenig Menschen kommuniziert hatten, aber so schlecht kann nur jemand denken, der mit Pfarrern nicht viel im Sinn hat. Wahrscheinlich hatte der Weihrauchofen nicht gleich gebrannt oder ein menschliches Bedürfnis war Schuld für die Verzögerung gewesen.

Der Trauerzug hatte Mühe dem Pfarrer mit der angemessenen Würde zu folgen, da dieser durch übergroße Schritte die Verzögerung offenbar wieder hereinzuholen suchte. Vor Verlassen der Kirche drängten sich dann - im Bewußtsein ihrer wichtigen Rolle - energisch die Mitglieder des bezahlten Chores zwischen Pfarrer und Angehörige, als wollten sie damit zeigen, wer die wirklichen Hauptakteure waren. Aber bei dieser oberflächlichen Veranstaltung waren sie es wohl auch.

Die Zeremonie im Leichenhaus schien mir die Formelhaftigkeit des Gottesdienstes noch zu übertreffen. Der Kaplan schwenkte unter Beschwörungen seinen heidnischen Rauchkessel über den Sarg und nebelte der kleinen Raum damit ein. Dazu trällerte der Chor irgendeine kitschige Weise, die Leichenträger starrten aus (nicht aus Trauer) geränderten Augen gleichgültig ins Leere, steif wie Soldaten neben dem Sarg stehend. Der wiederum verbarg unter seinem Hochglanzfurnier die geliebte Großmutter so total, daß meine Vorstellungskraft es kaum schaffte ihn zu durchdringen. Ich fand das Trauerritual absolut unangemessen und mußte mich beherrschen, daß ich nicht laut zu brüllen begann und den Chor zusammen mit dem Pfaffen hinausjagte. Allein Schweigen schien der Situation angemessen zu sein, alles andere war verfehlt.

Ich schloß die Augen und sah meine Großmutter vor mir. Ihr magerer, geschundener Leib mochte in dem Sarg liegen, sie aber war in mir, lebte in meinem Herzen. Ich sah sie, wie sie jeden Sonntag im Sommer auf einem Stuhl vor dem Taubenhaus saß und selig das Treiben davor beobachtete - sah mich als Kind auf ihrem Schoß, wie sie mich liebkoste und kitzelte - wie sie mit mir Karten und Mühle spielte - wie sie mir die Kinderkrankheiten mit den neuesten Micky Maus Heften versüßte - sah wie sie mir Geld zusteckte, von dem sie selber nur wenig hatte - hörte sie ihre bekannten Scherze machen (wenn ich sie mit "Guten Morgen" begrüßte, sagte sie immer "Guten Heit", dann haben wir zwei schöne Tage", oder, wenn ich ihr irgend etwas als gesund anpries, sagte sie immer, "gesund für die Gesunden, die Kranken läßt`s auch im Bett liegn". Ich sah sie mit meinen Kindern, ihren Urenkeln, über die sie sich so sehr gefreut hatte. Wie oft hatte sie dabei an ihren schon so lange verstorbenen Mann gedacht und gesagt: "Mei, wenn das der Opa noch erleben würde..!"

Ich erinnerte mich, wie sie mir immer wortlos beim Arbeiten geholfen hatte. Etwa beim Ausbau meines Häuschens, wo sie solange mithalf, bis auch der letzte Handgriff erledigt gewesen war. Ich sah sie vor mir, wie sie abends dann immer mein Werkzeug aufräumte und sich um jene Arbeiten kümmerte, die ich (aus Gedankenlosigkeit) oder wegen anderer vernachlässigte. Ich dachte daran, wie sie mir regelmäßig beim Brennholzmachen half, die Scheite wegräumte und zu Scharen aufrichtete, - wie sie meiner Frau beim Wäscheaufhängen zur Hand ging - noch wenige Wochen vor ihrem Tode konnte sie niemanden arbeiten sehen ohne mitzuhelfen. Sie schloß sich immer wortlos jedem Arbeiten an und griff einfach zu. Wenn man sich bei ihr bedankte, flachste sie immer und sagte, sie wollte sofort bezahlt werden.-

Ich sah sie hinter unserem Auto herwinken, wenn wir uns nach den Ferien wieder auf den ungeliebten Weg in die Fremde machten und dachte mit großem Bedauern daran, daß ich mich für ihre Lebensgeschichte erst interessiert hatte, als wegen ihrer Schwerhörigkeit ein richtiges Gespräch schon kaum mehr möglich gewesen war.-

Die Großmutter hatte niemals viele Worte gemacht, niemals geklagt (auch nicht über Schmerzen), ein zufriedenerer Mensch hat auf dieser Erde wohl kaum gelebt. Auch zu Zeiten des Wirtschaftswunder konnte sie sich weder mit Kuchen noch ähnlichem verfeinerten Zeug anfreunden, Butter hatte sie sich zeitlebens nicht aufs Brot gestrichen.

Aufgewachsen war sie auf einem kleinen Bauernhof im Vorwald, ärmlich und karg, doch (wie sie einmal betont hatte) ohne Hunger, denn Kartoffeln, Milch, Brot und Obst hatten die Bielmeiers immer genug. Ihren Lebtag lang ist die Oma nie über den Gäuboden hinausgekommen, sie hatte dazu auch nicht das geringste Bedürfnis. Ich wollte sie manchmal mit meinem Auto ein wenig herumkutschieren, doch sie hat immer abgewinkt. "I geh wieda in mein Stubn", oder: "Dahoam, da is am Scheenan" war in aller Regel ihre Antwort.

Als junge Frau hatte sie das heimatliche Dorf verlassen und in der Küche des renommierten Zwieseler "Gasthof Post" ein Auskommen gefunden. Mit fast dreißig Jahren ging sie eine Beziehung zu einem armen Pferdeknecht und Tagelöhner ein, der wie sie von einem Bauernhof abstammte und den sie (als der aus der Beziehung hervorgehende Sohn vier Jahre alt war) auch heiratete. Kurz nach der Weltwirtschaftskrise, bauten sich die beiden unter größten Mühen eine bescheidene Doppelhaushälfte am Ortsrand.

Während der Heu- und Kartoffelernte half sie bei einheimischen Großbauern, um den spärlichen Lohn des oft arbeitslosen Mannes ein wenig aufzustocken. Daneben versorgte sie zwei eigene Ziegen, ein Schaf (das ihr wie ein Hund hinterherlief), ein Schwein, Hühner, Gänse und ein paar Haustauben. Sie pflückte im Wald Beeren und Pilze, machte Brennholz und zog zwei Kinder groß. Während des Hitlerkrieges, als man den Großvater zum zweiten Mal in seinem Leben für das elende Kriegsgeschäft einzog, war sie jahrelang auf sich allein gestellt und mußte alles allein machen. Die Nachbarn erzählten, wie die Großmutter beim Schein einer Lampe oft die halbe Nacht noch das Brennholz sägte, wofür sie tagsüber keine Zeit hatte.

Ihre große Leidenschaft war die "schneidige" Musik, die ihr bis ins hohe Alter noch in die Glieder fuhr und sie zum Tanzen veranlaßte. Einmal hatte sie mir erzählt, wie vor langer Zeit die reichen Bauernburschen und Bürgersöhne im Fasching mit ihr getanzt und ihre Tanzkünste nicht genug bewundern hatten können. Doch sei sie damals maskiert gewesen und trotz allem Drängen habe sie ihre Maske nicht gelüftet.

Zum achtzigsten Geburtstag hatte ich ihr deshalb ein Lied geschrieben, in dem von ihrer Tanzleidenschaft erzählt wird. Da die Großmutter öfter sagte, sie habe "Wia da Lump am Stegga" getanzt, nannte ich das Lied auch so.

Nun war sie also tot. Sie war meine geliebte Oma und ich ihr Bua...


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