1989 Sozialismus Ade

Anmerkungen zum Mauerfall, geschrieben im November 1989

Die US-amerikanische Art zu leben sei einem Sauerteig vergleichbar, der selbst den größten Teig durchsetzt, schrieb Brecht einmal in einem reimlosen Gedicht im ersten Drittel des Jahrhunderts.

Die Gegenwart zeigt, daß sich in den sechzig Jahren seither nichts geändert hat. Die ehemals sozialistischen Staaten werfen alle ihre Errungenschaften über Bord, ihrer Bevölkerung kann es dabei gar nicht schnell genug gehen. Auch wenn, zugegeben, ihr sogenannter Sozialismus staatlich verordnet, ein Zerrbild aller sozialistischer Träume war, geknebelt von Bürokraten und Spießern. Und doch erstaunt der zu Tage tretende Haß und Eifer, wie 17 Millionen in jene Verhältnisse zurückstolpern, die alles andere als gerecht und zukunftträchtig sind. Doch sie wollen keinen neuen, menschlicheren Sozialismus, mit weniger Bürokratie und Partei, weniger Plan und weniger Gängelung. Sie haben Angst die Chance zu verpassen, Angst, dass das "Zeitfenster" wieder geschlossen wird... Wie entsetzlich müssen ihre Verhältnisse gewesen sein, daß sie sich bedingungslos in die Arme derjenigen werfen, die bekanntermaßen für Geld alles machen. Doch sie nehmen das in Kauf. Alles, sagen sie, nur kein neuer Sozialismus! Einen dritten Weg lehnen sie ab, zu groß erscheint ihnen die Gefahr, daß die Planer von gestern wieder erstarken könnten. Erst einmal anständigen Kapitalismus - dann kann man ja weitersehen....

Ist es wirklich der Hunger nach größerer individueller Freiheit, der die Ostdeutschen antreibt, wie es unsere Medien behaupten. Wie viele Menschen nützen diese bei uns? Laufen nicht die meisten in der Herde? Geht es nur um die Hoffnung auf größeren Konsum, um einen Platz an den Fleischtöpfen? Deren Zutaten in der ganzen Welt zusammengestohlen werden. Es wird sich zeigen, ob diese Fleischtöpfe weiterhin so gefüllt bleiben, wenn sie zur Propaganda nicht mehr nötig sind. Dabei lag die größte Errungenschaft der DDR gerade in dem Umstand begründet, dass sich die Menschen mit ihrem Fleiss eine Versorgtheit erarbeitet haben, die sich im internationalen Vergleich wirklich sehen lassen kann. Und dies trotz aller Knüppel, die ihnen die kalten Krieger des Westens zwischen die Beine geworfen haben, trotzdem sie totgerüstet wurden und statt Nützlichem  immer neue Waffen bauen mußten und vor allem: trotzdem sie sich an der globalen Räuberei nicht beteiligten! Ihr bescheidener Wohlstand war selbstgemacht, nicht zusammengegaunert und zusammengestohlen! Wo ist der berechtigte Stolz auf diesen Umstand geblieben?

Welche Lehren sind zu ziehen? Ist es nun müßig, für die Menschen ein gerechteres Gesellschaftssystem zu erstreben, da sie einfach nicht sozial zu kriegen sind, weil sie nicht gleich sein wollen, weil sie sich in erworbenen Dingen unterscheiden wollen, weil sich stets in einem Ausleseprozeß die schlechten Menschen an die Schalthebeln der Macht drängen, weil jede neue Generation offenbar jeden Fehler selber machen will, weil Egoismus sich scheinbar alleine vermittelt, auf Dauer immer erfolgreich ist, soziales Denken und Verhalten dagegen ein unrealistisch hohes Maß an Einsicht und Feingefühl verlangt...? Wer kann schon durch einen See schwimmen ohne naß zu werden? Grad so ist es aber mit dem Egoistischen, also dem Bösen. Doch wie soll man einen See trockenlegen, wenn er von sovielen Quellen und Sümpfen gespeist wird? Die Lage erscheint hoffnungslos.Mit Luwig Hohl möchte ich sagen: Die Menschen ändern sich nicht. Wenige doch. Die andern: Laß!