Geiss Haejm

 

Tschernobyl

 Mai 1986

 

 

 

 

 

28.4.86

Kongress über direkte Demokratie in Memmingen der GRÜNEN. Ich bringe eine halbe Stunde Lieder und Texte zu dem, was mich bewegt, warne vor Wackersdorf und der atomaren Barberei.

 

Am Abend, in den letzten Nachrichten, höre ich eine Kurzmeldung, daß in Skandinavien erhöhte Radioaktivität gemessen wurde, man vermutet einen Atomunfall in der Sowjetunion.

 

29.4.86

Die Nachrichten sind immer noch spärlich, aber besorgniserregend. In deutschen Sendern wird nur abgewiegelt. Die Österreicher sind besorgter.

 

In den Abendnachrichten sagt Umweltminister Zimmermann (der schwarze Obergauner!) Tschernobyl liege über zweitausend Kilometer entfernt und es bestünde überhaupt keine Gefahr.

Ich hole den Atlas und erkenne, daß dieser Kerl sogar bei der Entfernung lügt, denn bis zur bayerischen Grenze sind es keine zwölfhundert Kilometer.

 

30.4.86

Eine Wolke umfängt Europa, unsichtbar, totbringend.

In der Ukraine stieg sie auf

mit der Kraft von tausend Atombomben und verteilt

sich seither gleichmäßig

über tausende von Kilometern.

Schon wird in Kärnten geraten

die Kinder im Haus zu behalten, ebenso

schwangere Frauen. In Polen werden an Kinder

Jodtabletten verteilt, in den deutschen Apotheken

war dieser Artikel bereits heute vormittag ausverkauft.

Ich ergänze vorsichtshalber unseren Getreidevorrat,

kaufe Milchpulver Honig und trockene Hülsenfrüchte.

 

Es ist gespenstisch.

Ich gehe über die Wörishofer Flur und mein Sohn

fährt mit dem Fahrrad nebenher. Die Wiesen

dampfen nach einem Gewitterschauer in der Sonne.

Der Löwenzahn färbt die allgäuer Wiesen langsam gelb

eine Lärche steigt in den Himmel, endlich

ist der Frühling da! Dann

atme ich tief, denn der Wind kommt ja noch aus Südwesten.

 

Am Abend verlautet in den Nachrichten, daß die Radioaktivität 

aber längst die Schweiz und Tirol erreicht hatte, die Wolke aus Tschernobyl kam also bereits aus Südwesten.

Eigentlich wollte ich an diesem verlängerten Maiwochenende die Kartoffeln stecken und Kraut auspflanzen. Nun sitzen wir, bei - im doppelten Sinne- strahlenden Wetter im Haus, hören, daß die Belastung stündlich wächst.

Am Abend bringe ich bei Nieselwetter- ich glaube die Radioaktivität direkt zu schmecken- meinen Leserbrief an die Augsburger Allgemeine zum Briefkasten. Wortlaut:

Ende der atomaren Blindheit

Wenn sich die ukrainische Atomwolke einmal gleichmäßig über den Erdball verteilt hat und die akute Bedrohung abgeklungen sein sollte, darf nichts mehr sein wie vor der Katastrophe. Anderenfalls wäre die Menschheit wirklich so unbelehrbar, wie von Pessimisten oft beschrieben.

Die bisherigen Äußerungen der Atompolitiker in Ost und West lassen aber wenig Einsicht ahnen.

Als Vater von Kindern, für deren Zukunft ich verantwortlich bin, fordere ich den sofortigen Stopp aller zivilen und militärischen Atomprojekte und mittelfristig den Rückzug aus dieser teuflischen Technologie. Wir fühlen uns in unserem Grundrecht (Art.2 GG) auf Leben und körperliche Unversehrtheit bedroht. (Und ich kenne niemanden, der das anders sieht!).

 

Es gibt tausend Gründe gegen diesen Wahnsinn. Einer davon genügt aber: es ist durch nochts zu rechtfertigen, nachfolgenden Generationen ein tausende von Jahren strahlendes Erbe zu hinterlassen, nur- um günstigstenfalls noch ein paar Jahrzehnte so verschwenderisch weiterwursteln zu können wie heute.

Im Art. 20 GG heißt es, die Staatsgewalt würde vom Volk u.a. durch Abstimmungen ausgeübt. Eine Volksabstimmung über Atomkraft ist längst überfällig. Alle wissen, wie diese ausgehen würde. Aus diesem Grunde haben die Regierenden daran auch kein Interesse.

Da von Deutschland der atomare Irrweg seinen Ausgang nahm, sollten wir als erste auch ein deutliches Umkehrsignal geben.

(erschienen am 10.5.86 in der Augsburger Allgemeinen Zeitung).

 

1.5.86

Der Mai ist da! Wie haben wir ihn nach dem langen, ungewöhnlich harten Winter ersehnt! Nun ist Frühling! Strahlendes Wetter, man sagt das so, doch es strahlt wirklich. Ein Hoch, langersehnt, liegt über Europa, mit steifen Ostwinden.

Ich warne meine Schüler, nicht ohne wichtigen Grund das Internat zu verlassen. Ich mache meine Schüler darauf aufmerksam, sie glauben aber, was sie glauben wollen. Die Nachrichten melden von Sportveranstaltungen und von Maikundgebungen, niemand glaubt offenbar an die Gefahr.

 

 

2.5.86

Heute lese ich, daß in München in Bodennähe nach dem abendlichen Gewitterregen die fünfzigfache Radioaktivität gemessen worden war, wie normal. Doch im Radio heißt es dazu nur lapidar: Die Werke sinken beständig. Es bestehe keine, aber überhaupt keine Gefahr für die Bevölkerung.

In Hessen werden die Eltern aufgefordert, ihre Kinder nach dem Spielen im Freien gründlich abzuwaschen, ebenso Salat und so. Man solle keine Frischmilch von weidenden oder mit frischem Grünfutter versorgten Tieren zu sich nehmen.

Ich spreche mit einem Arbeitskollegen. Er fühlt sich überhaupt nicht bedroht, denn erst im radio habe er gehört, daß dies alles absolut  ungefährlich sei.´(Ich atme tief). Auch sein Schwager, der in einem Atomkraftwerk arbeite, sage das auch.

Ich sage, der Mann im Radio, der die Meldungen verfasse, sei ein Atomdepp und lüge, wenn er den Mund aufmache.

 

9.5.86

Als wenn uns die Natur zeigen möchte: "Seht, trotz euerer atomaren Dummheit mache ich heuer alles besonders grün, besonders saftig! Die Radioaktivität schadet hauptsächlich euch Menschen! Das Gras ist deswegen nicht weniger grün, die Milch ist weiß wie eh und jeh, nur ihr seid verstrahlt und werdet krank! Macht weiter so, ich habe Zeit...!"

 

Es ist wirklich grotesk. Die Menschen trauen sich kaum noch aus den Häusern, der Boden und das Wasser sind hochgradig verstrahlt.   Gleichzeitig herrscht das prächtigste Wachswetter: sonnig, naß, dampfig.

 

10.5.86

Ich habe ´nach Tschernobyl´ vier Arten von Menschen erlebt. Die ersten, die wie ich jahrelang vor der Atomspalterei gewarnt haben, sind ziemlich still, denn insgeheim hatten sie eine Katastrophe dieses Ausmaßes doch nicht erwartet, oder wenigstens immer gehofft, daß es nie soweit kommen würde.

Die zweite Art sagt, " Mein Gott, wir haben uns täuschen lassen, wir haben an die Technik geglaubt, wir sind entsetzt über das was passiert ist; unsere Einstellung zur Atomkraft hat sich geändert".

Die dritte Art tut so, als wenn sie schon immer dagegen gewesen wären; der Lautstärke ihrer Worte nach ähneln sie Marktschreiern.

Die vierte Art zeigt sich auch durch Tschernobyl ungerührt. Um sie zur Umkehr zu bringen müßte ihnen schon Strontium pfundweise auf den Kopf fallen (oder noch besser, ihre Autos verbeulen...). Von dieser vierten Art gibt es leider eine ziemlich große Population, eine zu große.

 

Ich spüre, daß Tschernobyl auch für mich eine große Ä'nderung bringen wird. Als ich zu einem Protestmarsch in Türkheim geladen werde, um bei der Kundgebung Lieder zum Thema vorzutragen, sage ich meine Teilnahme zwar zu, doch ich merke, es hat sich etwas verändert.

Zehn Jahre habe ich immer differenzierte Argumente zur Atomkraft vorgetragen, habe erklärt und appelliert. Vor acht Jahren habe ich wegen der bornierten Haltung des DGB zu dieser Frage meinen Austritt erklärt, vor sechs Jahren aus denselben Gründen den aus der katholischen Kirche. Ich entschuldigte Politiker, Techniker und Bevölkerung immer damit, daß es ihnen einfach an Vorstellungskraft mangele. Nun ist das, vor dem ich mit zig Liedern und Texten gewarnt hatte, eingetreten. Ich erkenne, da0 es auch mir an Vorstellungskraft mangelte, denn die Realität ist viel schlimmer als von mir ausgemalt. Ja, und selbst diese Wirklichkeit reicht nicht aus, den blinden Menschen die Augen zu öffnen. Welchen Sinn sollen dann noch Lieder haben? Tschernobyl ist das Ende meiner kritischen Lieder, es kann nicht anders sein, jener Memminger Auftritt meine letzte Missionierung.

Die Leute werden mir auch gar nicht zuhören, denn sie werden Tschernobyl überleben, die Krebstoten in zehn oder zwanzig Jahren, das wird immer die anderen betreffen... Zudem gibt es 350 Reaktoren weltweit, der Wahnsinn ist nicht mehr zu stoppen. Es wird noch viele Tschernobyls geben, und Sewesos usw. Wir werden überleben, oder auch nicht. Wenn kümmert es da, wenn das letzte Cäsium aus Tschernobyl in unserer Erde erst in dreihundert Jahren verschwunden sein wird?