Einblick ohne Durchblick
	
	  Bei Rückenschmerzen ist das Röntgen oft überflüssig
	
	
	   
	  Rückenschmerzen sind das Volksleiden Nummer eins. Keine anderen Beschwerden
	  verursachen so viele Folgekosten - in Deutschland fallen 75 Millionen Arbeitstage
	  jedes Jahr deswegen aus. Mehr als 500 000 Menschen werden jährlich aufgrund
	  von Rückenschmerzen vorzeitig in Rente geschickt. Geht ein Patient mit
	  Kreuzbeschwerden zum Arzt, reagieren die meisten Mediziner mit dem gleichen
	  Reflex: Sie wollen sich ein Bild machen und lassen die Wirbelsäule
	  röntgen oder schieben die Patienten in Kernspin oder
	  CT. 
	   
	  Ärzte aus Portland und Baltimore in den USA bezweifeln, dass diese Strategie
	  den Patienten nützt. In der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Lancet
	  zeigen sie, dass Rückenleidende nichts davon haben, wenn sie nach der
	  Begrüßung automatisch geröntgt oder in die Röhre geschoben
	  werden. "Ärzte sollten diese Routine aufgeben", sagt Roger Chou von
	  der University of Oregon, der die Studie geleitet hat. "Nur bei einer drohenden
	  Lähmung, Entzündungen oder schweren Begleiterkrankungen wie Krebs
	  sind solche Bilder sinnvoll." Die Mediziner um Chou werteten Erfahrungen
	  von 1800 Patienten in verschiedenen Ländern aus. Demnach waren bei Patienten
	  mit Kreuzbeschwerden, deren Wirbelsäule zuvor aufgenommen wurde, nach
	  einem Jahr weder Beschwerden stärker gelindert, noch fühlten sie
	  sich besser versorgt. Auf ihre Lebensqualität wirkte sich die
	  Zusatzdiagnostik, die oft mit einer Strahlenbelastung einhergeht, auch nicht
	  aus. 
	
	
	  Seit Jahren mehren sich die Hinweise, dass Bilder der Wirbelsäule
	  überflüssig sein könnten. In kaum einem Bereich der Medizin
	  gibt es so große Unterschiede zwischen Befund und Befinden.
	  Bei vielen Menschen sieht man zwar starke
	  Abnutzungserscheinungen - aber der Verschleiß der Knochenkette sagt
	  wenig darüber aus, ob jemand Beschwerden hat. In früheren Studien
	  sollten Radiologen und Orthopäden Rücken-Aufnahmen bewerten. In
	  einem Drittel der Fälle erkannten sie krankhafte Prozesse, rieten zur
	  Operation. Was die Knochenexperten nicht wussten: Ihnen wurden Aufnahmen
	  von beschwerdefreien Gesunden gezeigt. 
	   
	  Spätestens seitdem weiß man: Röntgenärzte stellen bei
	  vielen Erwachsenen Veränderungen der Wirbelsäule fest, die krankhaft
	  erscheinen, aber keine Therapie erfordern. Fast die Hälfte der
	  50-Jährigen hat einen Bandscheibenvorfall, merkt aber nichts davon.
	  Umgekehrt gelten 90 Prozent aller Rückenschmerzen als "unspezifisch",
	  das heißt, es ist kein Auslöser zu finden. Zudem lässt die
	  Pein im Kreuz zumeist von allein nach. "Oft sind
	  Rückenschmerzen wie Erkältungen: Mit Behandlung dauern sie 14 Tage
	  - ohne zwei Wochen", sagt Peer Eysel, Chef der Orthopädie
	  an der Uniklinik Köln. 
	   
	  "Ärzte wollen diagnostische Sicherheit, auch wenn belegt ist, dass sie
	  diese nicht durch Bilder bekommen", sagt Michael Kochen, Präsident der
	  Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin. "Allerdings sind auch viele
	  Patienten technisch geprägt und erwarten es, geröntgt zu werden."
	  Kochen hat im Lancet einen Kommentar zu der neuen Studie geschrieben. Er
	  bemängelt, dass bei vielen Ärzten nicht ankommt und umgesetzt wird,
	  was längst als medizinisch gesichert gilt. "Das trifft nicht nur auf
	  Rückenschmerzen zu, sondern auch auf die Therapie von Hochdruck und
	  Diabetes", beklagt der Göttinger Arzt. "Wenn es bei den Ärzten
	  nicht ankommt, sollten wir uns vielleicht an Patienten richten und ihnen
	  über die Medien sagen: Will euch der Arzt bei Rückenschmerzen sofort
	  röntgen, lehnt es ab." Werner Bartens 
	
	
	 
	Quelle: Süddeutsche Zeitung 
	Nr.31, Samstag, den 07. Februar 2009 , Seite 1  |