Die Zukunft des Kosovo

Wer der Region die Unabhängigkeit gewährt, belohnt die Albaner für Vertreibung und Diskriminierung

Von Ljiljana Smajlovic

Drei Dinge sind in den vergangenen Wochen ziemlich offenkundig geworden. Das erste ist Washingtons glühender Wunsch, dem Kosovo die Unabhängigkeit zu gewähren. Das zweite ist, dass es dies lieber früher als später tun will, und zwar drittens vorzugsweise unter deutscher Aufsicht. Die Befürworter der Unabhängigkeit wollen eine UN-Resolution über den künftigen Status der serbischen Provinz durchboxen, bevor die deutsche EU-Präsidentschaft Ende Juni wieder zu Ende geht. Ein großes Hindernis dabei ist Moskau; russische Offizielle deuten ein Veto an, mit dem sie die Interessen Serbiens schützen wollen. Aber meint der russische Präsident Wladimir Putin dies ernst? Die Pro-Unabhängigkeits-Clique hat einen Traum: US-Präsident George W. Bush und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel setzen sich im Juni beim G-8-Gipfel mit Putin zusammen, und vielleicht, wenn auch nur vielleicht, gelingt es ihnen ja, ihn zu überzeugen, die Serben über Bord zu werfen.

Obwohl andere es also eilig haben mögen: Kanzlerin Merkel wäre gut beraten, anzuhalten und einige Dinge zu erwägen.

Im Jahr 1992 war es die deutsche Eile, die zur überstürzten Anerkennung der kroatischen und slowenischen Unabhängigkeit durch die damalige Europäische Gemeinschaft führte. Die Deutschen drohten mit einem Alleingang, falls die anderen europäischen Länder ihrem Aufruf für die kroatische und slowenische Unabhängigkeit nicht folgten. Einer, der davor warnte, war Alija Izetbegovic, der inzwischen verstorbene damalige Präsident der Republik Bosnien und Herzegowina. Gegen Ende 1991 reiste er nach Bonn, um den deutschen Politikern seine Bedenken mitzuteilen. Er befürchtete, dass eine überstürzte und radikale Lösung ihn und seine umkämpfte Republik in eine unvertretbare Lage bringen würde. Er sah die Dinge exakt vorweg.

Im Jahr 1999 wiederum folgte Deutschland eilfertig der amerikanischen Führung, als diese Jugoslawien bombardierte, ohne dass dies von den Vereinten Nationen sanktioniert worden wäre. Sowohl der deutsche Außen- wie auch der Verteidigungsminister übertrafen sich wechselseitig in wilden Übertreibungen serbischer Aktionen im Kosovo, indem sie sie mit Auschwitz und den Nazis verglichen.

Acht Jahre darauf gibt es eine drastisch andere Situation. Unmittelbar nachdem die serbischen Streitkräfte im Juni 1999 den Kosovo verlassen hatten, fand dort unter den Augen von 50000 Nato-Soldaten eine ethnische Säuberung umgekehrter Art statt. Sie richtete sich gegen 200000 Nicht-Albaner in der Region. Statt der multi-ethnischen Demokratie, die US-Präsident Bill Clinton beschwor an dem Tag, als er die Bomber schickte, ist der Kosovo heute eine der ethnisch reinsten Gegenden in Europa. Hunderte mittelalterliche serbische Klöster, Kirchen und Friedhöfe sind entweiht, gesprengt, verbrannt oder dem Erdboden gleichgemacht worden. Die wenigen Serben, die geblieben sind, leben in Enklaven, die von der Nato bewacht werden, und fürchten um ihr Leben. Gesetzlosigkeit ist allüberall, die Kriminalität ist zügellos, Intoleranz ist die Norm. Als der Sturz von Slobodan Milosevic in der ganzen Welt freudig als Triumph der Demokratie begrüßt wurde, meinte ein führender kosovarischer Intellektueller (nämlich Veton Surroi, Redakteur der liberalen Tageszeitung Koha Ditore), dass es für die Albaner und ihren Anspruch auf den Kosovo nicht einmal einen Unterschied machen würde, wenn Mutter Teresa nun Milosevic in Belgrad ersetzen würde. Verglichen mit dem Kosovo, ist das Serbien nach Milosevic ein multi-ethnisches Paradies.

Warum also die ungebührliche Eile, dem Kosovo die Unabhängigkeit zu gewähren? Hier in Belgrad ergreifen westliche Offizielle jeden Strohhalm, um ihre Motive zu erklären. Uns wird gesagt: "Milosevic hat den Kosovo verloren", und wir sollten ihm die Schuld für das Schicksal von Tausenden und Abertausenden unserer Mitbürger geben, die aus dem mythischen "alten Serbien" vertrieben wurden. Aber Milosevic liegt unter der Erde.

Inzwischen sollten doch vor allem die Deutschen Experten für Kollektivschuld sein. Zwölf Millionen Deutsche wurden nach dem Zweiten Weltkrieg von ihrem Land in Ostmitteleuropa, auch im früheren Jugoslawien, vertrieben - die härteste Form von kollektiver Bestrafung überhaupt. In Belgrad haben wir derzeit den Eindruck, dass die Vorstellung wieder erweckt wird, es gebe Gruppen, die nun mal "grundsätzlich böse" seien. Aber wenn die Unterdrückung der Albaner durch die Serben dazu geführt hat, dass die Serben das Recht verloren haben, den Kosovo zu regieren (wie uns wiederholt erklärt wurde, während Nato-Bomben über unsere Köpfe regneten) - müssten dann nicht umgekehrt nun auch die Albaner ihr Vorrecht durch die schonungslose Diskriminierung von Serben, Roma und anderer Minderheiten eingebüßt haben?

Welche Verstöße Slobodan Milosevic auch immer begangen hat, der radikale Nationalismus der Albaner sollte im Kosovo weder belohnt noch ermutigt werden. Es ist schlimm genug, dass die Vereinigten Staaten den Ehrgeiz aufgegeben haben, ein ehrlicher Makler zwischen Serben und Albanern zu sein. Kanzlerin Merkel kann es nun besser machen. Deutschland weiß doch selbst am besten, wie gefährlich Radikalismus bei der Lösung der nationalen Frage sein kann. Die deutsche Geschichte zeigt, dass radikale Lösungen nichts Gutes verheißen, sogar dann, wenn Unmut gerechtfertigt ist oder Minderheiten legitime Beschwerden haben. Es bringt nichts, zu Sezession zu ermuntern oder Annexion zu unterstützen. Es gibt ja noch weitere unerledigte Fälle in Europa, ethnische Gruppen und Grenzen betreffend, und es gibt für all diese Fälle keine radikalen Lösungen, die gut wären. Und will man ausgerechnet im Kosovo einen Präzedenzfall schaffen? Diese Region mit ihrer halb-terroristischen, ultra-chauvinistischen Führung und ihrer ethnisch reinen Bevölkerung in einen unabhängigen Staat zu verwandeln - dies wäre ein radikales Ereignis in der europäischen Geschichte.

Man mag sich kaum vorstellen, dass dies bei Kanzlerin Merkel Optimismus auslösen könnte, geschweige denn Enthusiasmus. Von allen Ländern sollte besonders Deutschland gegen eine übereilte Unabhängigkeit für den Kosovo sein.

Quelle: Süddeutsche Zeitung, Februar 2007