Die vernachlässigten Opfer
  Holocaust-Überlebende bekommen in Israel nur wenig Hilfe
  
  Einmal im Jahr steht in Israel das Leben für zwei Minuten still. Am
  Holocaust-Tag heulen Sirenen, Autofahrer halten an, im Fernsehen läuft
  "Schindlers Liste". Am Holocaust-Tag zu Beginn dieser Woche allerdings wurde
  nicht Steven Spielbergs Melodram gezeigt, sondern ein Film über die
  traurige Wahrheit im israelischen Alltag der Holocaust-Überlebenden.
  Die für Israel peinliche Recherche der beiden Filmemacher Orli Vilnai
  Federbusch und Guy Meroz veranlasste Sozialminister Isaak Herzog zu dem Satz:
  "Ich schäme mich, wie wir mit den Holocaust-Überlebenden
  umgehen."
  
  In Israel leben noch etwa 250 000 Menschen, die der Mordmaschinerie der
  Nationalsozialisten entkommen sind. Doch ausgerechnet der Staat, der wegen
  des Holocaust überhaupt erst gegründet worden ist, von Juden für
  Juden, vernachlässigt die Überlebenden. Einer Studie des israelischen
  Holocaust-Dachverbands zufolge, die am Tag der Ausstrahlung des Films in
  dieser Woche veröffentlicht wurde, erhalten von den in Israel wohnenden
  Schoah-Überlebenden nur 30 000 eine monatliche Rente - von gerade einmal
  etwa 250 Euro. Insgesamt 80 000 Holocaust-Opfer leben laut Film und Studie
  unterhalb der Armutsgrenze. In der Dokumentation kommen hochbetagte
  Holocaust-Überlebende zu Wort, die im Winter in ihren Wohnungen frieren,
  die kein Geld für Lebensmittel haben und hungern, die mitunter ein Jahr
  auf ein Brillengestell oder ein Hörgerät von der Krankenkasse warten.
  Sie weinen vor der Kamera und sagen, nie hätten sie geglaubt, dass sie
  ausgerechnet von Israel ignoriert würden.
  
  Nathan Durst von der israelischen Vereinigung "Amcha", die den Überlebenden
  psychosoziale Unterstützung anbietet, ist erbost: "Es ist absolut
  inakzeptabel, dass sich Holocaust-Überlebende in Israel täglich
  zwischen Essen und Medikamenten entscheiden müssen." Es sei "sehr leicht,
  diese Opfer zu vergessen, denn sie machen keinen Lärm". Diese Aufgabe
  hat aber nun der Film übernommen: In ihm wird Israel als "der schlechteste
  Ort für Holocaust-Überlebende" bezeichnet. Mehrere Behörden
  und Institutionen seien zwar für deren Anliegen zuständig. Wenn
  es aber um die Bezahlung von Unterstützung gehe, schiebe eine Behörde
  der anderen die Verantwortung zu.
  
  Die ohnehin meist an schweren Traumata leidenden Schoah-Opfer seien jetzt
  zugleich Opfer der Entschädigungs-Bürokratie. Die in New York
  ansässige "Jewish Claims Conference" etwa, deren Aufgabe die
  Rückerstattung von enteigneten Vermögenswerten an Holocaust-Opfer
  ist, hält nach Angaben der Filmemacher zwischen 300 und 900 Millionen
  US-Dollar zurück - aus bürokratischen Gründen. Nicht nur die
  Claims Conference und Israels Regierung werden in dem Film angeklagt, sondern
  auch israelische Banken, die angeblich bis heute Vermögen von
  Überlebenden zurückhalten.
  
  Manche in Israel lebende Schoah-Opfer sehen den einzigen Ausweg im Auszug
  aus dem gelobten Land. Manche hat es daher im hohen Alter ausgerechnet nach
  Deutschland verschlagen. Wie Lilo Clemens. Sie lebt heute wider ihren
  eigentlichen Willen in Berlin, weil die Bundesregierung
  Holocaust-Überlebenden eine monatliche Rente garantiert und die Bezahlung
  ihrer Medikamente übernimmt. Clemens erhält nun jeden Monat etwa
  1200 Euro. Sie sagt: "Es ist eine Schande für Israel, dass ich in
  Deutschland leben muss." Thorsten Schmitz
Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.90, Donnerstag, den 19. April 2007