Angst vor der Massenverweigerung

Warum die Bundesregierung mit allen Mitteln versucht, die Bundeswehr aus dem Süden Afghanistans herauszuhalten

Von Hans Rühle


Mitte März verweigerte ein Oberstleutnant der Luftwaffe den Befehl, an der logistischen Vorbereitung des Einsatzes von Tornados in Afghanistan mitzuwirken. Er habe, so der Offizier, verfassungsrechtliche, völkerrechtliche und strafrechtliche Bedenken und könne daher aus Gewissensgründen dem Befehl, sich auch nur an Unterstützungsleistungen zu beteiligen, nicht Folge leisten. Die Bundeswehr reagierte umgehend. Schon drei Tage nach der formalen Befehlsverweigerung wurde der aufmüpfige Offizier in eine Abteilung, die militärische Liegenschaften verwaltet, versetzt - "zur Wahrung der gewissensschonenden Handlungsalternative".

Die Reaktion der Vorgesetzten war richtig. Sie war aber auch unvermeidlich. Nach der seit Mitte 2005 geltenden höchstrichterlichen Rechtsprechung muss kein Soldat der Bundeswehr einen Befehl ausführen, den ihm sein Gewissen verbietet. Dabei spielt es keine Rolle, ob sich die Bundeswehr im Friedenszustand, im Spannungsfall oder gar im Verteidigungsfall befindet. Irrelevant ist zudem, ob ein Einsatz nach Artikel 5 des Nato-Vertrags vorliegt, ob er von den Vereinten Nationen mandatiert ist, ob er in Deutschland, auf Nato-Gebiet oder jenseits der Bündnisgrenzen stattfindet. Auch die tatsächlichen Folgen einer möglichen Befehlsverweigerung sind ohne Bedeutung: Die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr wird vom 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts ausdrücklich - und in Abweichung vom bisherigen Rechtsverständnis des Bundesverfassungsgerichts - der Gewissensfreiheit des Artikels 4 des Grundgesetzes untergeordnet. Die Gewissensentscheidung ist auch dann relevant, wenn sie als "irrig", "falsch" oder "unplausibel" gewertet werden kann.

Um die Befehlsverweigerung aus Gewissensgründen im Einzelfall tatsächlich zu ermöglichen, hat der Wehrdienstsenat entschieden, dass dem Verweigerer "eine gewissensschonende diskriminierungsfreie Handlungsalternative" bereitgestellt wird. Der Verweigerer wird daher nicht nach den bisher angewandten Verfahren bestraft oder über den Status des nachträglichen Totalverweigerers aus der Bundeswehr entlassen, sondern nur innerhalb der Bundeswehr umgesetzt. Die Befehlsverweigerung aus Gewissensgründen ist daher risikofrei. Dies umso mehr, als dem Verweigerer keine Laufbahnnachteile erwachsen dürfen.

Voraussetzung einer zulässigen Befehlsverweigerung ist das Vorliegen einer "ernsten Gewissensnot". Dafür reicht aber bereits ein Sachverhalt aus, der eine Entscheidung zwischen Gut und Böse ermöglicht. Ist ein solcher Sachverhalt gegeben, ist eine Verweigerung in jedem Fall zulässig, weil die Verweigerung dann per definitionem eine Gewissensentscheidung ist. Eine weitere Begründung ist dann auch nicht erforderlich.

Zunächst ist die Tatsache, dass im Deutschen Bundestag von 573 Abgeordneten 157 gegen die Entsendung der Tornados gestimmt haben, die Fraktionsführung der SPD diese Entscheidung gar als "Gewissensentscheidung" bezeichnet und von aller Fraktionsdisziplin freigestellt hat, Beweis genug für das mögliche Entstehen einer echten Gewissensnot bei betroffenen Soldaten. Doch damit nicht genug. Die Beteiligung der Bundeswehr am Krieg in Afghanistan ist - die Klage der Linksfraktion und zweier Unions-Abgeordneter vor dem Bundesverfassungsgericht belegt dies - verfassungsrechtlich und völkerrechtlich umstritten. Dabei ist die Völkerrechtswidrigkeit des Krieges in Afghanistan längst keine esoterische Mindermeinung vermeintlich konfuser deutscher Berufsquerulanten mehr, sondern eine in der internationalen Völkerrechtslehre durchaus verbreitete Sicht der Dinge. Auch die Kriegführung der US-Streitkräfte ist inzwischen Gegenstand intensiver völkerrechtlicher Debatten.

Da es sich also in der gegenwärtigen Lage eindeutig um einen völkerrechtlich und politisch umstrittenen Einsatz der Bundeswehr handelt, ist, wie bereits festgestellt, die "ernste Gewissensnot" für jeden zum Einsatz in Afghanistan befohlenen Soldaten evident. Das heißt: Jeder Soldat der Bundeswehr - mit welchem Dienstgrad auch immer - kann einen Einsatzbefehl nach Afghanistan straf- und folgenlos verweigern. Ihm ist dann eine gewissensschonende, diskriminierungsfreie Handlungsalternative bereitzustellen. Dabei darf es keine Rolle spielen, ob nur ein Einzelner diesen Weg geht, oder 1000 - oder alle. Auch wenn dies unglaublich klingt, es entspricht exakt dem Urteil des Wehrdienstsenats von 2005.

Doch wie hat man sich all dies konkret vorzustellen? Im Grunde genügt es, wenn vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Diskussion um die Rechtmäßigkeit des Afghanistan-Einsatzes der dorthin befohlene Soldat mit einem einzigen schlichten Satz bekundet, dass er den Befehl aus Gewissensgründen nicht befolgen könne. Dann kann der Disziplinarvorgesetzte entweder diese Verweigerung akzeptieren und den Verweigerer einer anderen Verwendung zuführen. Oder er leitet ein Verfahren ein, das zu einer Bestrafung wegen Befehlsverweigerung und einem anschließenden Gang durch die Instanzen führen kann. Angesichts der gültigen Rechtsprechung wäre ein Verfahren jedoch aussichtslos. Dies wissen die Rechtsberater der einschlägigen Dienststellen nur zu gut.

Was nun? So lange deutsche Soldaten in Afghanistan nur in Ausnahmefällen konkret bedroht sind, überwiegen im persönlichen Risikokalkül das verbliebene soldatische Ethos und die finanziell attraktiven Bedingungen eines Auslandseinsatzes - und der Einsatzbefehl wird befolgt. Sollte die Bundeswehr aber massive Verluste hinnehmen müssen, ändern sich die Entscheidungsparameter für jeden Soldaten - und seine Familie - dramatisch. Dann wird die Alternative der Verweigerung, die ja straf- und folgenlos bleiben muss, eine Option, der sich viele nicht entziehen können und wollen.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, weshalb die Bundesregierung mit allen Mitteln zu verhindern sucht, dass deutsche Soldaten im Süden Afghanistans in gefährliche Gefechte verwickelt werden. Dies ist nachvollziehbar. Umso unverständlicher ist allerdings, wenn die Regierung in der Diskussion um eine amerikanische Raketenabwehr das Thema "gleiche Sicherheit" mahnend thematisiert - und zugleich darauf besteht, dass deutsche Soldaten im (noch) ungefährlichen Norden Afghanistans ein eher beschauliches Dasein fristen, während verbündete Streitkräfte im Süden des Landes einen hohen Blutzoll entrichten.

Hans Rühle, 69, war von 1982 bis 1988 Leiter des Planungsstabes im Bundesverteidigungsministerium. Anschließend baute er die Bundesakademie für Sicherheitspolitik auf und war für die Nato tätig. Foto: dpa


Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.73, Mittwoch, den 28. März 2007