Von Reformdividende keine Spur

Der Aufschwung hat fast nichts mit der Agenda 2010 zu tun - sondern vor allem mit der Bereitschaft der Unternehmen, nach einer Krise wieder kräftig zu investieren / Von Dierk Hirschel


Der Weihnachtsmann kam diesmal aus Franken. Die Nürnberger Bundesagentur verkündete die niedrigste Arbeitslosigkeit seit 15 Jahren. Doch so richtig zum Feiern ist niemand zumute. Der deutsche Michel jammert, dass er nur die Rute spürt; vom Aufschwung spürt er nichts. Deswegen zogen ehemalige Oberreformer nach langer Geisterfahrt die Reformbremse. Jetzt ist Schluss mit Heulen und Zähneklappern. Stattdessen gibt es länger Stütze und Mindestlöhne. Ja, sind wir denn noch zu retten? Die Eliten aus Wirtschaft, Medien und Wissenschaft sind entsetzt. Kaum wirkt die bittere Reformmedizin, soll die Therapie schon wieder beendet werden.

Nun ist Volkes Stimme nicht immer der Weisheit letzter Schluss. Das Misstrauen gegenüber den Heilkräften der Reformpolitik ist jedoch berechtigt. Mit der Agenda 2010 und dem Aufschwung verhält es sich wie mit Geburtenhäufigkeit und Zahl der Störche. Es gibt eine Korrelation, aber keine Kausalität.

Dass der Wachstumsmotor läuft und der Arbeitsmarkt brummt, ist unbestritten. Das Sozialprodukt legte im laufenden Aufschwung satte sieben Prozent zu. Dieses Wachstum schuf über 700 000 neue Jobs. Große reformistische Entfesselungskunst sieht aber anders aus. Im letzten Konjunkturfrühling 1998 bis 2000 wuchs die Wirtschaft genauso kraftvoll. Auf dem verkrusteten Arbeitsmarkt des damaligen Hochsteuerlandes entstanden über 1,4 Millionen neue Arbeitsplätze, doppelt so viele wie im aktuellen Aufschwung. Selbst ohne Mini- und Midijob-Boom bleibt bei der regulären Beschäftigung ein Plus von 150 000 für das 98er Konjunkturhoch. Lediglich bei den Arbeitsstunden schneidet der vermeintliche Agenda-Aufschwung besser ab.

Mehr Arbeit führt nicht automatisch zu mehr Jobs. Denn die sogenannten Arbeitsmarktreformen eröffneten den Firmen neue Flexibilitätsspielräume. Somit kann das höhere Arbeitsvolumen zu großen Teilen auf den alten Personalbestand neu verteilt werden. Folglich können bisher unfreiwillig Teilzeit- und geringfügig Beschäftigte jetzt mehr arbeiten. Arbeitszeitkonten tun ein Übriges. Im Ergebnis ist der "Agenda-Aufschwung" beschäftigungsärmer als sein Vorgänger.

Was aber ist mit dem Nürnberger Wunder? Diesmal purzelten fast 170 000 Arbeitslose mehr als im letzten Aufschwung aus den Büchern der Bundesagentur. Doch auch bei der Arbeitslosenstatistik lohnt es sich, genauer hinzusehen. So ist das Arbeitskräfteangebot zwischen 1998 und 2000 um eine halbe Million stärker gestiegen. Eine günstige demographische Entwicklung und weniger Zuwanderung entlasten heute den Arbeitsmarkt. Dies hat nichts mit Hartz I - IV zu tun. Auch werden Arbeitsuchende jetzt nicht schneller vermittelt. Die durchschnittliche Vermittlungsdauer ist von 40 auf 70 Tage geklettert. Hinzu kommt kreative Buchführung. So schiebt die 58er Regelung mehr als 500 000 ältere Arbeitssuchende aus der Statistik. Unter dem Strich kommen heute nicht mehr Arbeitslose in Arbeit als in früheren Aufschwungsphasen.

Dies heißt nicht, dass die Reformen keine Wirkung hatten. Im Gegenteil: Die verschärfte Zumutbarkeit bei Hartz IV hat im Mix mit einer liberalisierten Zeitarbeit, erweiterten Befristungsmöglichkeiten, geförderter geringfügiger Beschäftigung und weniger Kündigungsschutz die Jobqualität unterhöhlt und den Niedriglohnsektor ausgebaut. Jeder Fünfte, der Vollzeit arbeitet, geht heute mit weniger als 1630 Euro brutto nach Hause. Rund 1,2 Millionen Beschäftigte nehmen ergänzende Hartz-IV-Leistungen in Anspruch. Fast sieben Millionen Menschen sind geringfügig beschäftigt. 300 000 Menschen arbeiten als Ein-Euro-Jobber. Zudem gibt es 700 000 Leiharbeiter.

Arbeitsmarktpolitisch hat die Niedriglohnstrategie versagt. Während die Zahl der Niedriglöhner stetig zunahm, stieg die Arbeitslosigkeit der Zielgruppe - Personen ohne Berufsabschluss - von 20 Prozent auf heute 26 Prozent. Geringqualifizierte Arbeitslose bekommen durch niedrigere Löhne und weniger Schutzrechte keine neue Chance. Folglich haben heute vier von fünf Billiglöhnern eine abgeschlossene Berufsausbildung oder einen Hochschulabschluss. Zudem dequalifiziert der Niedriglohnsektor diese gut ausgebildeten Arbeitnehmer. Denn eine Brücke in existenzsichernde reguläre Vollzeitbeschäftigung gibt es nur für Wenige.

Darüber hinaus verschärften die Reformen die allgemeine Lohnschwäche. Die Drohung mit dem Hartz-IV-Armutskeller macht die Belegschaften erpressbar. Erstmals in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte fielen in einem Aufschwung die realen Brutto- und Nettolöhne. Kein Wunder, dass die Konsumflaute trotz Jobaufbau anhält. Der Binnenmarkt lebt ausschließlich von den Investitionen.

Bleibt zu klären, warum das Land überhaupt wächst. Die Arbeitsmarktreformen, der Kern der Agenda 2010, fallen als Grund aus. Gesundheits-, Renten- und Steuerreform kommen ebenfalls nicht in Betracht. Schließlich lag der mittlere Beitragssatz zu Beginn des aktuellen Aufschwungs nur 0,8 Prozent unter dem Niveau des letzten Zyklus. Die Steuerquote liegt höher als 2003, dem Verkündungsjahr der Agenda. Unter Kopfschmerzen leiden aber nicht nur die Wirtschaftsliberalen. Dieser Aufschwung steht auch nicht unter keynesianischem Dopingverdacht. Die realen öffentlichen Bruttoinvestitionen sanken zwischen 2000 und 2006 um fast 11 Prozent.

Am Ende werden wir auf die simplen Bewegungsgesetze moderner kapitalistischer Volkswirtschaften zurückgeworfen. Was wir aktuell erleben, ist ein ganz normaler Investitionszyklus. Im Abschwung tätigen Unternehmen immer auch Rationalisierungsinvestitionen. So wird der Kostendruck produktiv bewältigt. Zudem mussten Betriebe nach fünf mageren Jahren ihre Maschinenparks und Gebäude modernisieren. Die Exportindustrie musste bei vollen Auftragsbüchern erweitern. Auf diese Weise füllten sich die Auftragsbücher der heimischen Investitionsgüterindustrie. Die Politik hat an dieser Entwicklung keinen Anteil. Von Reformdividende keine Spur.

Politik ist aber nicht machtlos. Wenn der Weihnachtsmann 2008 auch noch fränkischer Herkunft sein soll, sollten wir jetzt die negativen Reformfolgen korrigieren. Bessere Regeln auf dem Arbeitsmarkt - Mindestlöhne, gleicher Lohn für gleiche Arbeit in der Zeitarbeit, Wegfall der Zumutbarkeit - sind die beste Voraussetzung für einen reich gedeckten Gabentisch in diesem Jahr.


Quelle: Süddeutsche Zeitung
02. Januar 2008