Leiden auf Rezept
  Immer mehr Menschen werden durch Arzneien krank
  
  Voltaire war skeptisch gegenüber dem Treiben der Mediziner: "Ärzte
  geben Medikamente, von denen sie wenig wissen, in Menschenleiber, von denen
  sie noch weniger wissen, zur Behandlung von Krankheiten, von denen sie
  überhaupt nichts wissen", hat der französische Aufklärer gesagt.
  Seit Voltaires Zeiten hat die Medizin zwar enorme Fortschritte gemacht.
  Nebenwirkungen von Arzneien können Ärzte bisher jedoch nur unzureichend
  verhindern. Einer Auswertung im Fachblatt Archives of Internal Medicine von
  diesem Dienstag zufolge haben die Komplikationen sogar stark zugenommen.
  Demnach hat sich die Zahl der schweren Arzneimittelzwischenfälle seit
  1998 mehr als verdoppelt. Die Todesfälle durch Medikamente haben sich
  seither sogar nahezu verdreifacht.
  
  "Dieser Anstieg weist auf ein massives Problem hin", sagt Thomas Moore vom
  Institute for Safe Medication Practices in Pennsylvania. "Wir müssen
  lernen, besser mit Arzneirisiken umzugehen. Das derzeitige System schützt
  die Patienten nicht genug." Das Team um Moore hatte Berichte von Nebenwirkungen
  und Todesfällen ausgewertet, die von der US-Arzneimittelbehörde
  FDA seit 1998 registriert werden. Wurden 1998 noch 34 966 Komplikationen
  verzeichnet, waren es 2005 schon 89 842. Die Zahl der Todesfälle nahm
  im selben Zeitraum sogar von 5519 auf 15 107 zu.
  
  Verschiedene Faktoren tragen dazu bei, dass mehr Nebenwirkungen gemeldet
  werden. So ist die Zahl der verschriebenen Medikamente insgesamt in den USA
  seit 1998 um etwa die Hälfte gestiegen - dies könne etwa 25 Prozent
  der zusätzlichen Zwischenfälle erklären, vermuten die Autoren.
  Etwa 15 Prozent des Anstiegs gehen auf einige wenige neue Substanzen
  zurück, darunter hauptsächlich Schmerzmittel sowie Medikamente,
  die das Immunsystem beeinflussen. "Im Gegensatz zu unseren Erwartungen machten
  die Mittel, die vom Markt genommen wurden, aber nur einen geringen Teil der
  Fälle aus", sagt Moore.
  
  Nach verschiedenen Schätzungen werden von der FDA jedoch nur 0,3 bis
  33 Prozent der tatsächlichen Nebenwirkungen erfasst. Die Dunkelziffer
  liegt weit höher. Ungewiss sind auch entsprechende Angaben für
  Deutschland. "Es gibt keine belastbaren Erhebungen zu dieser Frage, aber
  man kann die Zahlen aus den USA, aus Kanada oder Australien durchaus
  übertragen", sagt Daniel Grandt vom Vorstand der Arzneimittelkommission
  der deutschen Ärzteschaft. "Man kann die Dimension mit den etwa 5000
  jährlichen Todesfällen im Straßenverkehr vergleichen - gegen
  diesen Missstand wird aber weitaus mehr getan." Der Sachverständigenrat
  im Gesundheitswesen schätzt in seinem Gutachten 2007, dass in Deutschland
  80 000 Patienten jährlich wegen Nebenwirkungen ins Krankenhaus müssen
  - mindestens 40 Prozent dieser Fälle wären vermeidbar, sagen die
  Experten.
  
  Das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gibt hingegen
  zwischen 15 000 und 17 000 unerwünschte Nebenwirkungen durch Medikamente
  jährlich an, Tendenz ebenfalls steigend. Dazu zählen 1200 bis 1400
  tödliche Komplikationen. Diese Zahlen erfassen aber nur die gemeldeten
  Zwischenfälle. "Das sind weder alle Nebenwirkungen noch alle
  Todesfälle", sagt Ulrich Hagemann, der die Abteilung für
  Pharmakovigilanz im BfArM leitet, die für Arzneimittelsicherheit und
  -überwachung zuständig ist. "Leider muss man vermuten, dass die
  Mehrzahl der Ärzte keine Nebenwirkungen meldet." Werner Bartens
Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.209, Dienstag, den 11. September 2007